( K) ein sicherer Hafen
Ich sitze hier seit 5 Monaten, fünf Mal die Woche für 6 Stunden, und dennoch fühle ich mich wie ein Fremder in diesem Raum. In der linken Ecke, ganz hinten und alleine gelassen, sitze ich und warte, bis es zur Stunde läutet, der Lehrer hineinkommt und die Klasse wieder still wird.
Ich möchte nur noch weg aus diesem Raum und zurück im mein Zuhause, welches nicht in dieser Stadt oder in diesem Land, sondern ganz weit entfernt liegt. Ich will zurück in meine Heimat Syrien. Doch ich habe ein großes Dilemma: In meiner Heimat erwartet mich nur der Tod und hier bin ich geschützt, doch wie „zu Hause“ fühle ich mich nicht. Ich will zurück zu dem Ort, an dem meine Eltern trotz ihrer Unschuld erschossen wurden. Zu dem Ort, an dem meine Geschwister grundlos in die Luft gesprengt wurden. Zu dem Ort, an dem ich meine Freundin im Arm hielt, während sie langsam verblutete. Doch, obwohl meine Heimat, mein Zuhause, mich an so viele grauenvolle Ereignisse erinnert und mich nur unter Tränen einschlafen lässt, möchte ich zurück. Denn der Schmerz, den ich hier ertragen muss, ist schlimmer: Hier blicken mich alle verängstigt an, weil ich die Narben in meinem Gesicht die Spuren des Krieges hinterlassen haben. Hier werde ich verspottet, weil ich kaum Deutsch kann. Hier werde ich verprügelt, weil ich Ausländer bin. Hier verspüren meine Mitmenschen Schadenfreude, wenn mir etwas Schlechtes zustößt.
Meine Eltern hatten gemeint, dass es mir in Deutschland gut gehen würde. Dass ich herzlichst empfangen würde. Dass mein Leben besser würde, als in Syrien. Doch sie lagen falsch. Ich habe fremdes Terrain betreten und bin nicht willkommen. Als ich im Schlepperwagen gefunden wurde, haben mich die Polizisten mit voller Abscheu angeschaut, wäre ich der „Feind“, den sie in altbewährter Manier am liebsten „vergasen“ würden. Wenn ich meine Nachbarn grüße, laufen sie davon, als hätte ich eine tödliche Krankheit. Ist das ein besseres Leben? Ist das hier das neue Leben, das besser sein sollte, als mein altes in Syrien?
Ich starre den Lehrer an, während alle Blicke auf mich gerichtet sind. „Mohammed, hast du die Hausaufgabe gemacht?“, fragt er mich. Ich bleibe stumm. Er wiederholte die Frage, jedoch langsamer. „Vermutlich ist er zu dumm um Sie zu verstehen, Herr Professor“, sagt Maurice, einer der "coolen" Jungs. Die ganze Klasse beginnt ausgelassen zu lachen. Ich wende meinen Blick zum offenen Fenster. Ein schöner Tag. Ein schöner Tag, um meine Familie wieder zu sehen. Ich stehe auf und steige auf meinen Tisch. Mit einem Bein nach dem anderen erklimme ich die Fensterbank, während das Lachen langsam verstummt. „Spring doch!“, feixt Maurice. Diesmal ist er aber der Einzige, der darüber lacht. Alle sind still und blicken mich ängstlich an. „Ja, ich habe die Hausaufgabe gemacht“, sind meine letzten Worte, die ich von mir gebe. Ich komme zu euch, meine geliebte Familie und liebe Amira. Ich komme endlich in den Himmel. Dort in unbekannter Ort, der hoffentlich viel besser ist als dieser.
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