Kein Wort
Und da sah ich mich; zum ersten Mal seit langem. Hals über Kopf mein Spiegelbild. Reflektiert von der blankpolierten Innenseite eines silbernen Dessertlöffels. Kein einziger Kratzer, kein einsamer Rand eines alten Wasserflecks. Nichts, nur glatte Oberfläche, Licht, Physik und Ich. Mein Griff um den kurzen Stiel verkrampfte sich. Geballte Faust und die Fingernägel bohrten sich ins Fleisch. Der Zeitpunkt war da, ich musste mich sehen. Mich ansehen. Das war kein flüchtiger Blick, das war viel mehr nacktes Bloßstellen vor mir selbst. Die längste Zeit, wohl viel zu lang hatte ich es mir zur Gewohnheit, zum Zwang gemacht, Spiegel aus meiner Welt zu verbannen. Sie zuhause abzuhängen, zu verhängen, Blicke in sie zu vermeiden. Die Scham, der Ekel waren zu groß geworden und auch wenn ich mich selbst vielleicht nicht mehr sah, so sah ich doch meinesgleichen ohnehin jeden Tag, immer und überall, und wenn ich sie nicht sah, dann spürte ich sie. Auch jetzt. Eingepfercht saß ich zwischen ihnen, an einer endlosen Banketttafel. Skrupellos die Gläser hebend, ein Toast auf blutiges Geld und eine zugrunde gehende Welt. Und ich gehörte dazu. Wann war das passiert? Wann war ich so geworden? Man wird zu etwas über Nacht, bis man eines Morgens aufwacht und sich selbst ein Fremder ist. Entfremdet sah ich mich, ohne mich zu erkennen. Schon gar nicht aus dieser Perspektive, doch die Normwidrigkeit des Spiegelbilds machte den Anblick erträglicher. Dennoch traurig, die Erkenntnis, falsch gelebt zu haben. Die Krawatte penibel gebunden, wissend warum ein konkaver Spiegel verkehrt reflektiert, aber nie was riskiert. Nie Hals über Kopf in die Zukunft, nie Hals über Kopf verliebt, nicht mal Fehler Hals über Kopf gemacht. Immer nur treu dem System, ohne Umwege durch die Welt. Wagen müsste man das Leben, Saltos schlagen in der Haltlosigkeit der unendlichen Weiten. Sagen und zeigen müsste man ihnen, was für ein widerliches Pack man war. Wachrütteln, den Spiegel, den Löffel vorhalten und aus voller Kehle schreien: Seht euch selbst. Wer seid ihr, dass ihr heut noch lachen könnt? Jetzt oder nie, lautet die Devise, an der Wallstreet und auch hier, in diesem Augenblick. Ich befreite den Löffel aus den Fängen meiner Verzweiflung, fasste ihn leicht zwischen Daumen und Zeigefinger, ließ ihn sachte und dennoch bestimmt gegen eines der Weingläser klirren. Ein Ton, von reinem Klang erfüllte den Saal und tauchte ihn in unwirkliche Stille. Unvermittelt aus dem Rausch gerissen, sahen sie sich suchend nach der Quelle um. Eine Welle der erstaunten Erwartung schwappte auf mich zu. Erfasste mich. Jetzt oder nie könnte ich all das sagen, was in mir war. Räuspernd legte ich meine Stimme frei, holte Luft und setze zur Tirade an. Was dann kam war nichts. Ich stand also da und sagte kein Wort.
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