Keine Zeit
Ein eiskalter Lufthauch schlägt mir entgegen, als ich aus der Tür des Cafés trete. Der To-go-Becher in meiner Hand dampft. To-go-Becher. Kurz blicke ich zurück durch das Schaufenster in den Laden. Eine einzige Sitzbank steht nur noch dort. Sie ist verwaist, wie immer. Für gemütliches Sitzen hat sowieso niemand mehr Zeit. Das Klacken meiner Absätze fügt sich in die Geräusche der Stadt ein, es wird eins mit dem von hundert anderen Schuhen. Niemand sieht sich an, bleibt kurz stehen. Jeder bewegt sich im Takt, in dem Takt, den die Uhr vorgibt. Für alles andere ist keine Zeit. Ich laufe vorbei an hunderten leuchtenden Lichtern und tausend fremden Gesichtern. Nirgendwo verweilt mein Blick länger. Dafür ist keine Zeit.
Ich erreiche die U-Bahn-Station. Kurz bleiben meine Augen an einer digitale Werbetafel hängen. „Neon – lebe deinen Style“ Natürlich. Was wird morgen darauf stehen? Schwarz ist das neue Bunt? Oder doch schon: Metallic – Chick mit Klasse?
Während der kurzen Fahrt denke ich nach: Über Kundentermine, die ich wahrnehmen sollte, Unterlagen, die ich durchgehen müsste und über E-Mails, die es zu beantworten gälte.
Über die Termine, die ich versäumen werde, und über die Mails, die trotz all meiner Bemühungen ungelesen bleiben werden, weil ich nicht schnell genug bin. Nicht gut genug. Meine Gedanken rasen, genau wie die Stadt. Die Bahn bleibt stehen. Ich steige aus, haste weiter, dränge mich zwischen den Menschen hindurch. Nach einigen Metern werde ich gestoppt - vom Klingeln meines Handys. Verdammt. Ich habe keine Zeit. Ich darf nicht stehen bleiben. Nicht jetzt. Ich gehe ran, während ich weiterlaufe, immer weiter. „Moser am Apparat“, melde ich mich. Ich halte mir ein Ohr zu, um trotz des Straßenlärms etwas zu verstehen.
Noch während ich telefoniere, drehe ich um. Renne durch die Menschenmassen, versuche, mir einen Weg zu bahnen. Ich ignoriere die empörten Rufe, das Hupen der Autos, als ich über die Straße laufe, den wütenden Gesichtsausdruck der Menschen. Eine halbe Stunde später werden sie nicht mehr an mich denken.
Vor der Tür des Krankenhauses bleibe ich stehen. Die Tür öffnet sich automatisch, die stickige, nach Desinfektionsmittel stinkende Luft im Inneren vernebelt meinen Kopf. Drinnen hallt ein leises Piepen, irgendwo Summen und Schritte. Sonst: Stille. „Zimmer 103“, hallt es in meinem Kopf, immer wieder. Bevor ich eintrete, halte ich kurz inne. „Mama, wie geht es dir?“, frage ich mit zitternder Stimme. Ich greife nach ihrer Hand. Warm. Lebendig. Für den ersten Moment seit Stunden ist die Hast verschwunden. Die Zeit ist egal – wie alles andere auch. Es zählt nur ihre warme Hand.
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