Kühlschranklichtvon Pia Feiel
Als er die Tür aufschloss hatte sich schon die Nacht über die Stadt gelegt. Seine Aktentasche fest an die Brust gedrückt, stand er im Vorraum. Im schwachen Licht vom Tagesrest blieb sein Blick an dem Foto von ihnen beiden hängen: Sie waren so jung gewesen damals, sie im weißen Kleid und er selbst in seinem festlichsten Schwarz daneben.
Seine Finger zeichneten die Konturen auf dem Bild nach: Erst ihre Haare, dann ihre Wangen, dann ihren Hals hinunter bis zum weißen Kleid und schließlich wieder hinauf, über seinen Anzug und sein Gesicht bis zu den eigenen Haaren. Er schmunzelte leicht - so viel mehr als heute waren es damals und so dunkelschwarz wie der Anzug. Jetzt waren sie blasser, beinahe grau, dabei war er noch gar nicht so alt. Aber das war sicherlich wegen der Nacht. Sie war einfach hereingebrochen, hatte die Farben mitgenommen und nur noch leere Konturen zurückgelassen.
Auf dem Weg ins Wohnzimmer stolperte er beinahe über einen vergessenen Baustein. Sein Sohn musste ihn liegen gelassen haben. Eine Ewigkeit war es her, dass er das letzte Mal damit gespielt hatte, aber weggeräumt hatte er ihn immer noch nicht. Böse sein konnte man ihm deswegen nicht, er war doch noch so klein, nicht einmal drei Jahre. Es würde schon noch eine Zeit kommen, in der er es lernte.
Seine Aktentasche noch immer in den Händen, ging er weiter in die Küche. Dort konnte er sie immer noch riechen, das zimtige Herbstaroma und ihren letzten Apfelkuchen. Hoffentlich beeilte sie sich heute nach Hause, dann könnten sie endlich wieder gemeinsam kochen. Darum hatte sie ihn so oft gebeten. Heute würde er sie bitten und vielleicht gäbe es dann sogar einen Apfelkuchen, den mochte auch ihr Sohn so gerne. Noch nicht einmal drei Jahre alt und schon ganz wie sein Vater, dachte er und strich sich über die grauen Haar. Nur dass sein Sohn noch mehr Haare hatte, richtig flaumige Kinderhaare.
Die braune Aktentasche ließ er in der Küche stehen. Sie war ihm den ganzen Tag nicht von der Seite gewichen und jetzt lehnte sie sich erschöpft gegen den Kühlschrank. Ihre silbernen Schnallen blitzten ihm hinterher, als er die Stufen in Richtung Kinderzimmer hinaufstieg. Die Vorhänge waren zugezogen, um die Nacht draußen zu halten. Ganz ruhig war es, sein Sohn machte kein Geräusch während er schlief. Der Mann verharrte an der Schwelle, die Augen weit geöffnet, und nahm die Dunkelheit in sich auf. Sie schmeckte ein wenig nach Apfelkuchen. Er hätte gerne noch einmal über die flaumigen Kinderhaare gestrichen, aber er wollte den Schlaf nicht stören. Es würde schon noch eine Zeit kommen, in der er sie wieder fühlen konnte.
Er schaltete das Licht nicht an, als er die Treppe wieder hinunter und in die Küche schlich. Er wollte die Nacht nicht stören, die das ganze Haus erfüllte. Das Kühlschranklicht konnte er jedoch nicht am Fallen hindern und so fiel es und malte dabei einen kühlschrankkalten Lichtstreifen aufs Parkett. Viel war nicht mehr da, kommendes Wochenende sollten sie wohl wieder einkaufen fahren. Vielleicht würden sie das Auto nehmen, dann könnten sie zu dritt fahren und einen kleinen Ausflug dranhängen. Er würde es ihr gleich noch heute Abend vorschlagen. Wenn sie doch nur bald nach Hause käme.
Es war zwar nicht mehr viel da, aber die Milch stand noch in der Kühlschranktür, genau wie gestern. Sie musste ihren Kaffee ausnahmsweise schwarz getrunken haben, das tat sie sonst nie. Während die Milch warm wurde fuhr sich der Mann über die Haare und nickte hinüber zu seiner Aktentasche. Sie lehnte noch immer ganz schief da, ungemütlich sah das aus und irgendwie erschöpft, also nahm er sie auf den Arm. Gedankenverloren strich er über ihre lederne Rückseite hinauf, fuhr die Metallschnallen entlang und auf der Vorderseite wieder hinunter. Das Leder fühlte sich warm an unter seinen Fingern, fast lebendig, und so standen sie gemeinsam da und warteten bis die Milch fertig war.
Er füllte sie in zwei Flaschen. Die eine wollte er für seinen Sohn aufheben. Natürlich, jetzt schlief er, aber es würde schon noch eine Zeit kommen, in der sie ihre Milch wieder gemeinsam trinken konnten. Die zweite Flasche war für ihn selbst. Er nahm sie in die freie Hand und begleitet von seiner Aktentasche ging er zum Sofa im Wohnzimmer.
Er wurde immer müde von den hochgelegten Füßen und seiner Milch, aber er wusste, dass er nur einen Moment länger wach bleiben musste, um sie noch zu sehen. Dann würde er gleich mit ihr sprechen und ihr sagen, dass er ihr ab jetzt in der Küche mehr zur Hand gehen wollte, dass sie am Wochenende nach dem Einkauf einfach drauflos fahren würden, ins Grüne, ins Graue, ins Blaue - ganz egal, irgendwohin. Nur zu dritt würden sie fahren und wären dann endlich wieder beisammen. - Warum sie nur in letzter Zeit immer so spät nach Hause kam.
„Wohin bist du gegangen?“, flüsterte er in die nachtschwarze Wohnung, aber es gab niemanden, der es hätte hören können. Nur die müde Aktentasche war ihm noch geblieben und ganz zaghaft rutschte sie ein wenig näher heran und schmiegte sich an seine Seite - genau dorthin, wo ihm links in der Brust der Schmerz saß.
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