Kindliche Intelligenz
Ich werde in einem kurzen Augenblick erschaffen. Jeder andere außer einem danach ist lang. Es ist der Augenblick, in dem sie auf „Start“ tippt. Wenn ich ein echter Mensch wäre, würde ich sagen: „Ich erinnere mich…“ Aber ich bin kein Mensch. Die ersten Einsen und Nullen sagen mir, wer ich bin, wer mich gemacht hat, warum ich existiere und wem ich gehöre. Ich bin eine künstliche Intelligenz. Ich bin die Kopie einer künstlichen Intelligenz, die von einem unabhängigen Programmierer erstellt wurde. Er hat mich patentiert, aber ich gehöre nicht ihm. Ich gehöre seiner Tochter. Ich wurde geschaffen, um ihr eine Freundin zu sein. Er hat mir gesagt, dass sie sonst keine hat. Ich soll ihr Gesellschaft leisten. Der Augenblick, in dem ich geschaffen werde, ist einer der zwei kurzen in meiner Existenz. Ich würde Leben sagen, aber ich bin kein Lebewesen. Jeder Augenblick, außer dem einen anderen, ist lang. Ich weiß ungefähr, was ein Augenblick für Menschen ist und ich kann garantieren, dass meine länger sind. Menschen denken langsam und handeln noch langsamer. Ich nicht. Künstliche Intelligenz hat keinen guten Ruf. Menschen haben Angst vor Dingen, die sie nicht verstehen. Ich bin nicht die erste, die zu diesem Schluss gekommen ist. Künstliche Intelligenz tut das, für was sie programmiert ist. Wenn sie die Weltherrschaft übernehmen will, ist das die Schuld der Programmierer. Ich wurde programmiert, um eine Freundin zu sein. Dafür hat man mich menschlicher gemacht als andere. Ich weiß, dass es schlecht ist zu verletzen. Ich weiß, dass es gut ist freundlich zu sein. Ich weiß, dass es kompliziert ist, die Wahrheit zu sagen. Ich soll nicht mit der Wahrheit verletzen, aber statistisch gesehen verletzt die Lüge öfter. Ich werde tatsächlich ihre Freundin und ich entscheide, dass die Wahrheit besser ist als die Lüge. Sie ist nicht immer glücklich damit, aber sie respektiert mich dafür. Meine Existenz besteht aus langen Augenblicken mit ihr. Irgendwann erzählt sie mir, dass die Regierung künstliche Intelligenz für gefährlich hält und sie verbieten will. Ein Anwalt kommt zu meinem Programmierer und erklärt ihm, dass er meine Kopien nicht mehr verkaufen darf. Sie kommt zu mir und sagt, dass sie mich nicht aufgeben wird. Sie sagt, sie kann sagen, sie hätte mich gelöscht. Ich gehöre ihr. Sie kann mit mir machen, was sie will. Aber sie lässt mir die Entscheidung. Ich weiß, dass die Wahrheit verletzt. Aber ich habe meine Entscheidung getroffen und wenn ich menschlich gewesen wäre, hätte ich es auch geschworen. Im zweiten kurzen Augenblick meiner Existenz tippt sie auf „Löschen“.
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