Eine zweite Chance?
„Dada!“ - Tom schaut lächelnd das Video seiner kleinen Tochter Julia an, das seine Mutter ihm gerade geschickt hat. Darunter hat sie geschrieben: „Schau mal, sie spricht! Ihr erstes Wort!“ Seitdem seine Frau vor einem Monat gestorben ist, passen seine Eltern jeden Tag auf seine Tochter auf. Er findet keine Zeit, sich um sie zu kümmern. Er muss arbeiten, arbeiten, um Geld zu verdienen, Geld für seine Tochter, damit sie sorglos aufwachsen kann. Seiner Firma geht es nicht gut, er hat alle Hände voll zu tun, um sie zu retten, damit sie nicht in Konkurs gehen muss. Er verzweifelt an der Buchhaltung. Normalerweise hat das seine Frau gemacht; ihr ging die Arbeit leicht von der Hand. Als vor drei Monaten ihre Tochter auf die Welt gekommen ist, hat sie sogar im Krankenhaus gearbeitet, um die Firma zu retten. Tom wollte sie davon abhalten und meinte, dass sie sich ausruhen soll, aber sie hat immer nur gesagt: „Nein, ich mache das gerne, es geht schließlich um unsere Zukunft! " Er hat sie noch vor Augen, wie sie da saß, Julia auf ihrem linken Arm und den Laptop in der rechten Hand. Er vermisst seine Frau in jeder Sekunde und seine Tochter erinnert ihn sehr an sie. Um sich von den Schmerzen abzulenken, arbeitet er jeden Tag bis spät in die Nacht. Er weiß, dass seine Eltern gut auf Julia aufpassen. So vergehen die Jahre und seine Tochter wächst zu einer wunderschönen, klugen und charmanten jungen Frau heran.
Julia ist inzwischen 25 Jahre alt, heute ist ihr Hochzeitstag. Sie steht vor einem antiken goldenen Spiegel und betrachtet sich. Das lange cremeweiße Kleid sitzt wie angegossen, es ist das Hochzeitskleid ihrer Mutter. Sie erinnert sich nur noch vage an den Geruch des Parfüms ihrer Mutter, ansonsten sind die Erinnerungen verblasst. Manchmal geht sie in eine Parfümerie, um genau diesen Duft wahrzunehmen. Sie geht nur dorthin, weil sie Angst hat, den Duft zu vergessen, Angst ihre einzige Erinnerung an ihre Mutter zu verlieren. Ihre Großeltern sagen immer, dass sie ihre blauen Augen und den Charakter ihres Papas hat. Ihr Vater war nie da. Sie wäre so gern bei ihm aufgewachsen. Oma und Opa haben immer gesagt, dass sie ihn viel zu sehr an ihre Mutter erinnert und er das nicht verkraftet, aber sie kann doch nichts dafür. Sie hätte doch gerne mehr Zeit mit ihrem Vater verbracht. Sie hat ihn gebeten, sie zum Altar zu führen und er ist tatsächlich gekommen. Er stellt sich hinter sie und meint, dass sie wunderschön sei. „So schön wie deine Mutter!“, flüstert er. Ihr Vater senkt den Blick und sagt: „Es tut mir so leid, dass ich nie für dich da war! Ich habe nicht miterlebt, wie du aufgewachsen bist. Habe dein erstes Wort verpasst, deine ersten Schritte… könnten wir nur die Zeit zurückdrehen und nochmal von vorne beginnen…“ Sie bemerkt die Tränen, die seine Augen füllen, langsam die Wangen hinunterkullern und mit einem traurigen Lächeln fragt er sie: „Können wir noch?“ Seine Stimme bricht ab und er fragt nur: „Können wir noch?“
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