Können wir noch anders sein?
Ich steige in die Straßenbahn, ein bisschen gehetzt, weil ich rechtzeitig zur Arbeit muss. Weil ich wie immer spät dran bin.
Wenigstens habe ich die Bim noch erwischt. Jetzt kann ich mich sieben Stationen zurücklehnen und mir vorstellen, wie mein Chef im Büro reagieren wird, wenn ich zum vierten Mal innerhalb einer Woche um halb neun noch nicht am Schreibtisch sitze. Okay, vielleicht kein so gutes Thema, jedenfalls nicht zum Entspannen.
Ich setze mich auf den letzten freien Platz und will gerade mein Buch aus der Tasche ziehen – einen eher langweiligen Thriller – als mir der junge Mann gegenüber auffällt. Er hat kein Handy in der Hand, weshalb ich ihn überhaupt erst wahrnehme. Ich schätze das sehr, nichts regt mich mehr auf, als in Gesellschaft von Leuten die einzige zu sein, die nicht ins Handy starrt oder Stöpsel im Ohr hat.
Der junge Mann schaut sympathisch aus. Kurze, lockige, braune Haare, Brille. Braun gebrannt, das T-Shirt flach am sportlich aussehenden Oberkörper anliegend. Auf den ersten Blick aber eher unscheinbar.
Als er merkt, dass ich ihn anstarre, hebt er kurz den Kopf und schaut mir direkt in die Augen. Für einen Moment sehe ich darin einen Schreck aufblitzen, der mich so überrascht, dass ich mich sofort abwende. Aus den Augenwinkeln aber beobachte ich, wie er mich mit kurzen, aufmerksamen Blicken mustert.
Als die nächste Station angesagt wird, springt er auf und geht zur Tür, als wäre er froh, die Straßenbahn verlassen zu können. Da habe ich eine Idee, eine etwas seltsame vielleicht, aber eine, für die ich sofort Feuer und Flamme bin. Anders als viele andere bin ich überdurchschnittlich neugierig.
Ich schreibe meiner Bürokollegin eine Nachricht: „Sorry, dass ich jetzt erst Bescheid gebe, aber seit heute Nacht habe ich schreckliche Zahnschmerzen und muss zum Arzt. Kannst du mich krankmelden? Danke und schönen Arbeitstag. Liebe Grüße Anne“, und verlasse hinter dem Mann die Straßenbahn. Wahrscheinlich ist das komisch, einen Mann nur wegen eines kurzen Aufflackerns von Schrecken in seinen Augen zu beschatten, aber er hat mich neugierig gemacht. Ich fühle mich wie die durchgeknallte Frau in einem meiner Lieblingsthriller.
Ich folge ihm langsam, hoffe, er bemerkt mich nicht. So wie es aussieht, ist er ohnehin tief in Gedanken versunken. Plötzlich biegt er in einen Hauseingang ein - und ist verschwunden. Super, jetzt habe ich blaugemacht, nur um einen Typen, den ich nicht kenne, bis zu seiner Wohnung zu verfolgen.
Ich bin nun auch bei der Tür angelangt, in die er eingetreten ist und bleibe verwundert stehen. Das ist kein normaler Hauseingang, es ist der Eingang zu einem kleinen Laden. Einem Buchladen. Doch kein verschenkter Tag! Langsam öffne ich die Tür und ein kleines Glöckchen am Eingang verkündet meinen Eintritt.
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