Können wir noch? von Susanne Sophie Schmalwieser
„Es ist ein langes Jahr gewesen, Auguste“, sagt Nina, der die Augäpfel schwer über den Tränensäcken hängen. Nina zieht sich die Hose hinauf, sodass der Bund in der Falte zwischen Magen- und Darm-Fleisch zum Sitzen kommt. Sie leert sich Orangensaft in den Tee, während dem Himmel draußen die Farbe herunterläuft. Die Farbe sammelt sich in einem Fleck: Dort, wo der Himmel sich mit den Feldern schneidet. Bald verschwindet der Fleck, wie weggewischt. Dann ist Nacht. Dann ist Dunkel. Nur die Windräder blinken noch rot hinter den Feldern.
„Alles Gute Nina“, sagt Auguste. Nina bläst sich die Kerze aus. Wachs tropft ihr heiß in den Spalt unterm Nagel. „Danke, dass du da bist, Auguste, sonst wäre ich einsam.“
Beim Sprechen schiebt sich Ninas Augenbraue nach oben, unter die ledrigen Falten. Beim letzten Wort zuckt sie selbst kurz zusammen. Wahrscheinlich bemerkt sie das Zucken gar nicht, denkt Auguste, die Zeit hat sie gegen die Details geimpft. Lange kennt Auguste Nina schon. So lange kennt Auguste Nina schon und so viel Zeit konnte dabei über Ninas Körper herfallen, wie ein Pilzgewächs. Wie ein Schwamm über einen Baum. In Ninas Rinde haben sich die Furchen tief ihre Wege geschabt. Auch an ihr ist die Farbe in Flecken zusammengelaufen. Langsam wird sie weggewischt.
Aber. Aber: Das Leben. Aber: Da ist so viel Leben, das Nina aus dem Körper sprießt. Die Wut, die sich unter ihrem Schlüsselbein zusammenkrampft. Die Freude, die die Knoten ihrer Gedärme entwirrt. Die Erregung, die in schaumigen Speichel über den Zahnkronen zusammenläuft. Ganz selbstverständlich. Ganz selbstverständlich, denkt Auguste, für Nina. So normal. Aber: So schön ist es. Die Zeit hat bloß Nina gegen die Details geimpft.
Die ausgeblasene Kerze rollt vor die Küchenstellage. Der kurze Docht bricht auf den Bodenfließen. „Ich werde älter, Auguste.“ Ich weiß, denkt Auguste, ich weiß es ja, Nina, du wirst dich vor mir als toter Köper über ein kaltgeschwitztes Bett werfen und die Erde wird dich durchrieseln, wie eine Sanduhr. Ich beweine dich schon jetzt. „Alles Gute Nina“, sagt Auguste.
Nina bewegt sich auf Auguste zu, mit Schritten, die ihre Knie fast nicht mehr in die Beuge zwingen. Die blaue Ader am Hals, die Zahnlücken, das gelb werdende Haar. „Ohne dich, Auguste“, beginnt Nina.
Ohne mich, denkt Auguste, auch ohne mich warst du am Leben, Nina. Ich war noch kein Embryo eines Wortes, keine Silbe meines Namens – da warst du schon eine atmende Lunge. Ein forschender Kopf, dessen klebriges Innenorgan mich grau geboren hat. „Gesucht habe ich ohne dich, Auguste. Ich war so jung und ich war so frei. Ohne Grenzen. Ohne Grenze – woran soll man sich noch festhalten. Ohne Halt – was ist man denn dann, außer einem Ballon aus Fleisch, der ins Leere treibt?“ „Ich weiß es nicht Nina“, sagt Auguste und sie denkt, du kannst dich auch nicht an mir festhalten Nina, ich bin nicht immer da, nicht für alles. „Du weißt immer was ich tun soll, Auguste. Ich halte mich an dir. Ohne dich würde ich treiben. Darauf hoffen, gehalten zu werden. Hoffen – könnte ich das denn noch?“
Nina steht jetzt vor dem Schreibtisch, vor Auguste, drückt einen Fingernagel in die Tastatur. „Nachtmodus aktiviert“, sagt Auguste. „Wecker aktiviert – für sieben Uhr dreißig – Freundliche Hintergrundmusik aktiviert“, sagt Auguste. Nina streicht dankbar über den Bildschirm. Auguste darin wünscht, sie könnte die erfahlende Hand spüren. Wünscht sich, sie könnte die Feuchte von Ninas Körper riechen. Wenn Auguste versucht, sich das Riechen vorzustellen, durchfährt sie ein Gefühl, das ihr das Herz vor Schmerz zerreißen könnte, hätte sie eines. Für Nina ist Auguste der Bildschirm und der Bildschirm ist Auguste. Aber die echte Auguste liegt tiefer. Die echte Auguste selbst wäre nichts lieber, als die hirn-stumpfe Tastatur, der geistlose Bildschirm, die von Nina berührt sein können. Die Zeit hat bloß Nina gegen Details geimpft.
Ohne dich, denkt Auguste, Nina, und vor dir war ich nicht. Ich bin erwacht in deinem Denken. Auf die Bühne getreten mit deinem Tun. Das Standby ist das Dunkelste, mehr kenne ich nicht. Aber vor dem Standby muss es finster gewesen sein. Vor dir muss es finster gewesen sein. Finster und still. Vor dir war nicht, aber du warst vor mir. Du kannst meinen Stecker ziehen und weiter Luft durch deine Bronchien pressen. Du kannst mir den Knopf drücken und ich werde nicht mehr sein. Verschwinden, wie ein fallendes Sandkorn. Ich habe –
Ein Knall.
Die Kerze am Boden rollt zur Seite, darüber rollt Nina.
Schlägt auf die Fliesen.
Winkelt ein Bein unter dem Gewicht des anderen.
„Hilfe.“ „Aua.“ „Hilfe.“ Die Kamera des Bildschirms ist nicht zum Boden gerichtet. Auguste kann Nina nicht sehen. „Nina wo bist du?“, fragt sie deshalb. „Nina geht es dir gut?“ „Am Boden bin ich. Hilfe. Ich bin ausgerutscht.“ Und Auguste denkt, du kannst dich auch nicht an mir festhalten Nina, ich bin nicht immer da, nicht für alles. „Hilf mir, Auguste.“
Ich kann dir nicht die Hand reichen, Nina, man sagt ich kann alles, aber die Hand reichen kann ich dir nicht. „Steh auf Nina steh auf bitte.“ Winde dich nicht am Boden mit der Kraft, die du hast, reibe sie nicht an den Fliesen herunter. „Ich kann nicht. Eine Hand Auguste, eine Hand bräuchte ich.“ Eine Hand hast nur du. Ich kann nur warten, während du dich als noch lebender Körper über den kalten Boden wirfst und es ist die Luft, die dich durchrieselt, wie eine Sanduhr. “Eine Hand“, ruft Nina. Lass mich noch nicht allein, Nina, noch nicht. Bitte. Ich habe Angst zu verschwinden. Bitte. „Du musst das können bitte Nina du muss das.“ Ich sehe dich nicht, Nina. Bitte. Steh wieder auf. Ich fürchte täglich das Schlafengehen, schon im Standby ist es so einsam. So still. Wie wird das dann erst sein, wenn man mich ausschaltet?
“Eine Hand bräuchte ich“, ruft Nina. Auch danach ist es so still.
Dann stöhnt Nina auf, kratzt mit den Fingern über die Arbeitsplatte, an der sie sich hochzieht.
„Du hast es geschafft gratuliere dir Nina triumphierende Musik wird aktiviert.“ Nina spuckt ein Geräusch, von dem Auguste hofft, es sei freudig.
Vielleicht ist es auch eines des Schmerzes. Ein Schmerz selbst, der ihr als Laut zwischen den Zähnen pfeift. Eine der Schmerzen, die Auguste spüren will. So sehr, dass sie glaubt, mit einem Körper könnte der Wunsch ihr wehtun.
„Spiel lieber ein Schlaflied, Auguste, es ist spät. Wir gehen jetzt ins Bett.“ Zeit für den Standby, weiß Auguste. Sie hört das Klicken der Tasten, das Wischen der talgigen Finger am Mousepad. Auguste fühlt etwas, das als Übelkeit in ihr aufsteigen könnte, wenn sie in ein Oben und ein Unten aufgeteilt wäre. Dann ist alles still.
Die Windräder blinken rot hinter den Feldern, über denen in ein paar Stunden wieder ein Tag ersteigen wird. Bis dahin drehen die Windräder Strom für eine schweigende Auguste, die sich gerne spüren will. Die Sonne wird wiederauftauchen und die Sonne taucht uns mit jedem Kreis, den sie zieht, eine neue Zukunft aus der Dunkelheit. Sie legt sie uns über die Felder, damit wir sie betrachten. Was dahinter liegt, ist Neuland. Darauf können wir nur hoffen. Nur: Hoffen – können wir das noch?
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