Komavon Hannah Stoellger
Er ist bei der Hälfte der Treppen angekommen, als ihm ganz plötzlich schwindelig wird. Alles verschwimmt und er bekommt keine Luft mehr. Will spürt nur, wie er nach hinten fällt, dann ist alles schwarz.
Es war ein kalter Novembertag, grau und nebelig. Benommen stieg Will aus dem Bett, ging in die Küche und machte sich und seiner Frau einen Kaffee. Alles war so wie immer. Sie aßen zusammen Frühstück und genossen die Ruhe; ihre kleine Tochter, Aylin, hatte an dem Tag bei Wills Eltern geschlafen. Wie immer gab er seiner Frau zum Abschied einen Kuss und machte sich auf den Weg in die Volksschule, seinem Arbeitsplatz. Im Lehrerzimmer unterhielt er sich mit seinen Kollegen, von denen viele schon gute Freunde von ihm geworden waren.
Kurze Zeit später war er im Klassenzimmer. Wie jeden Tag begrüßte seine Klasse ihn mit einem lauten „good morning, mister Will!“. In der Unterrichtsstunde versuchte er, den etwa acht- und neunjährigen Kindern einige einfache Vokabeln beizubringen. „You are my favourite teacher“, sagte ein Mädchen in brüchigem Englisch zu ihm und zeigte lächelnd alle ihre Zahnlücken.
Den Nachmittag verbrachte er mit seiner Tochter, sie war ganz überdreht. „Morgen werde ich sechs! Wie viele Geschenke bekomme ich?“, fragte sie ihn immer und immer wieder. „Wer hat denn gesagt, dass du Geschenke bekommst?“. Aylin starrte ihn erschrocken an. Seine Frau beruhigte die Kleine und strafte Will mit einem tadelnden Blick.
Abends musste er sich noch einmal auf den Weg machen, um einem Mädchen Nachhilfe zu geben. Als er bemerkte, dass er schon spät dran war, rannte er die Treppen hinauf.
Sie hat Krankenhäuser noch nie gemocht. Die hellen Farben, der Geruch des Desinfektionsmittels, die vielen kranken Menschen. Aber jetzt liegt ihr Mann hier. Auf der Intensivstation. Im Koma. Die Ärzte geben ihm eine fünfprozentige Überlebenschance.
Aylin hat sie das natürlich nicht gesagt. „Papa wird bald wieder aufwachen, er hatte einen kleinen Unfall und muss etwas schlafen, um sich auszuruhen“, hatte sie ihr erklärt.
Sie setzen sich vor das Zimmer und warten. Eine Krankenschwester kommt heraus.
Sie versucht zu lächeln, aber ihre Augen sehen traurig aus. „Sind Sie die Familie von Herrn Will?“, fragt sie. Emily nickt und sie betreten das Zimmer.
Da liegt er. Seine Haut ist ganz fahl. Der Monitor, auf dem die Herzschläge angezeigt werden, macht ein gleichmäßiges Geräusch. Um den Kopf hat er einen Verband. „Er hat sich eine Wunde zugezogen, als er die Treppen hinuntergefallen ist“, erklärt die Krankenschwester. Emily nickt. Langsam, etwas benommen geht sie auf das Bett zu. Sie setzt sich neben ihn und nimmt seine Hand. Können Leute, die im Koma liegen, Berührungen spüren? Aylin pikst ihren Vater in den Bauch. „Papa, wach wieder auf, du hast genug geschlafen! Wir haben ein Stück Geburtstagskuchen für dich übriggelassen.“ Die Krankenschwester sagt etwas, sie ist bemüht freundlich, aber Emily hört ihr nicht zu. Was ist, wenn er nicht mehr aufwacht? „Komm Aylin, wir gehen.“
Zu Hause putzt sie das ganze Haus. Einfach damit sie etwas zu tun hat. Sie fühlt sich so alleine ohne ihn, einsam irgendwie. Das übriggelassene Stück Geburtstagskuchen wird auch die nächsten Tage nicht angerührt, als stünde es für die Hoffnung, dass Will vielleicht doch noch aufwachen, nach Hause kommen und das Stück Kuchen essen würde.
Jeden Tag besucht Emily ihn, manchmal mit und manchmal ohne Aylin. Sie setzt sich dann neben sein Bett, nimmt seine Hand und redet mit ihm, in der Hoffnung er könne sie hören.
Mittlerweile ist es Ende November. Zwei Wochen liegt Will jetzt im Koma. Das Stück Kuchen ist bedeckt mit Schimmelpilzen und trotzdem weigert sich Emily, es wegzuschmeißen. Auch heute geht sie wieder ins Krankenhaus. Die Schwester begrüßt sie wie immer mit einem traurigen Lächeln. Emily setzt sich wie gewohnt an ihren Platz neben dem Bett und nimmt Wills Hand, als sie plötzlich ein Zucken seiner Finger bemerkt. Das gleichmäßige Geräusch des Monitors wird schneller, hektisch kommen Ärzte ins Zimmer gelaufen. „Er wacht auf!“ ruft einer von ihnen. Emily muss hinausgehen, um nicht im Weg zu sein. Einige Zeit später kommt die Krankenschwester: „Wir haben gute und schlechte Nachrichten. Er ist aufgewacht und wird überleben, aber sein Gehirn hat beim Unfall zu lange keinen Sauerstoff bekommen. Ihr Mann leidet an Gedächtnisverlust. Er kann sich an nichts mehr erinnern. . .“. Sie redet noch eine gefühlte Ewigkeit weiter auf Emily ein. Dass noch Hoffnung bestehe, manche Patienten würden nach einiger Zeit wieder gesund werden, aber sie hört ihr nicht mehr richtig zu. Stattdessen steht sie auf und geht langsam in das Zimmer. Will liegt auf seinem Bett, er sieht verwirrt aus. Sein Blick streift hektisch im Zimmer hin und her, er beachtet Emily nicht. Er erkennt sie nicht. Sie setzt sich neben sein Bett, traut sich aber nicht seine Hand zu nehmen. Er sieht sie kurz an, nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann schaut er sich weiter im Zimmer um.
Den ganzen Heimweg versucht sie positiv zu denken. „Er lebt, er ist aufgewacht“, sagt sie sich immer und immer wieder, bis die Worte in ihrem Kopf seltsam klingen. Aylin erzählt sie zu Hause, dass Will zwar wach sei, aber noch etwas Zeit brauchen würde, bis er wieder der Alte wäre.
Sie liegt noch ewig wach im Bett und denkt an ihn, bis sie im frühen Morgengrauen endlich einschläft. Die nächste Woche besucht sie ihn noch einige Male, aber er beachtet sie kaum. Mittlerweile hat er wieder angefangen zu reden, hauptsächlich wirres Zeug.
Mitte Dezember wird er aus dem Krankenhaus entlassen. Emily holt ihn zusammen mit Aylin ab. „Hallo Papa“, Aylin strahlt ihn an und erzählt ihm von den letzten Wochen. „. . . wir haben eigentlich ein Stück Kuchen für dich aufgehoben, aber jetzt ist es nicht mehr gut. . .“ Will hört ihr zu, nickt hin und wieder und lächelt. Er weiß nicht, wer dieses kleine Kind ist, ganz dunkel erinnert er sich aber an den Geruch ihres Shampoos. Er verbindet ihn mit einem Gefühl der Geborgenheit. Das Haus, wo die beiden ihn hinbringen, scheint ihm fremd, das Geräusch der quietschenden Haustür ist ihm jedoch vertraut. Er ist schon einmal hier gewesen. Auch das Brummen der Kaffeemaschine kommt ihm bekannt vor, doch je mehr er darüber nachdenkt, desto weniger kann er die Erinnerung daran greifen. Abends legt er sich in das große Doppelbett. „Gute Nacht Will“. „Gute Nacht. . .“. Er hält kurz inne. „Emily“ murmelt sie. „Gute Nacht Emily“.
Es vergehen Wochen. Zu Weihnachten besuchen sie seine Eltern, als er sie jedoch nicht erkennt, stürmt seine Mutter weinend aus dem Zimmer. Er hat einige solcher Begegnungen: Freunde, Verwandte und Arbeitskollegen. Sie sind Fremde für ihn.
Er verbringt viel Zeit zu Hause, oft wird er von der Frau an Orte gebracht, die ihm irgendwie bekannt vorkommen, aber auch wieder nicht. Die Frau und das Kind sind ihm mittlerweile vertraut, sie haben ihm ihre Namen schon unzählige Male gesagt, aber er vergisst sie immer wieder. Fotos von ihm und der Frau, manchmal mit und manchmal ohne Kind, sind im ganzen Haus verteilt. Sie mussten vor langer Zeit geheiratet haben, aber er hat keinerlei Erinnerungen daran. Er weiß nicht, ob er etwas für sie empfindet.
Kann man einen Menschen lieben, wenn man nicht einmal seinen Namen weiß? Ihren Geruch verbindet er mit etwas Glücklichem, Vertrauten.
Wie immer legt er sich abends in das große Doppelbett. „Gute Nacht Will“. „Gute Nacht Emily“. Er beugt sich zu ihr und gibt ihr einen Kuss.
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