"Komm zu uns"
Ich lief, und lief und lief immer weiter, denn mir war bewusst, dass, wenn ich jetzt stehen bleiben würde, alles vorbei wäre. Wo ich war, wie spät es ist oder gar welcher Tag heute war, wusste ich nicht mehr. Seit mindestens 5 Tagen war ich auf der Flucht vor IHNEN. SIE verfolgten mich Tags so wie nachts und hatten nicht die Absicht, mich in Ruhe zu lassen.
Es begann alles vor einigen Wochen, als ich an einem regnerischen kühlen Tag in meinem Zimmer saß und mein Lieblingsbuch las. Plötzlich fühlte ich mich unwohl, so als ob mich irgendetwas oder irgendjemand beobachten würde. Als dann die erste raue leise Stimme mir in mein Ohr flüsterte: „Komm zu uns“ brach ich in Panik aus. Doch das war nur der Anfang. Seit diesem Tag begann ich tausende dieser Stimmen zu hören. Sie alle sagten das Gleiche: „Komm zu uns“.
Ich hatte schreckliche Angst und erzählte meinen Eltern davon. Diese sahen mich jedoch entsetzt an und brachten mich in ein Krankenhaus, das Schizophrenie behandelt. Hatte ich diese Krankheit? Ich wusste es nicht. Egal, ich konnte dort nicht bleiben. Dort, in diesem weißen Haus, nur mit Ärzten. Ich hielt es dort nicht aus. So bin ich nun hier gelandet, einsam, hungrig und ohne Hoffnung auf dem Dach eines Hochhauses sitzend.
„Komm zu uns“, hauchte mir eine kratzige Stimme in mein Ohr. Ich erschrak. Schweißperlen rannten mir inzwischen über meine Stirn. „Komm zu UNS“, raunten mehrere Stimmen im Chor. „Geht bitte! Lasst mich in Ruhe!“, schrie ich SIE an. „Geh bitte, geh bitte zu uns! Du gehörst uns“, zischte eine der Unbekannten.
In meinem Kopf war kein Platz mehr, um einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Er war Rand vollgefüllt mit den schrillen, rauen, kratzenden, dutzenden von Stimmen. „Wohin soll ich kommen?“, erwiderte ich schluchzend. „Es ist ganz leicht”, zischte die Stimme. „Komm zu mir, ich tue dir nichts.“ „Wo bist du?“, fragte ich mit dünner, zitternder Stimme. „Mach die Augen zu. Folge einfach dem Klang meiner Stimme“, bekam ich als Antwort.
Als ich keine Anstalten machte, mich aufzusetzen, begannen die Stimmen in meinem Kopf noch schriller zu werden. Ich schrie vor Schmerzen auf und setzte mich auf. Nicht einmal der Tod konnte so schmerzen. „Geh bitte. NUN GEH SCHON!“, brüllten sie mich an. „So ists gut. Schließ deine Augen und folge meiner Stimme. Geh bitte, GEH BITTE!“ Vor Schmerz kreischend rannte ich auf die Stimme zu, bis sie direkt vor mir war. Ich tat einen letzten Schritt auf sie zu, bis ich gar nichts mehr hörte? Die Stimmen waren weg. Alles war leer. Der Schmerz war weg. Nicht nur der Schmerz in meinem Kopf, sondern der Verrat meiner Eltern, das nagende Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Alles war…leer. Lächelnd ließ ich mich immer weiter in dieses warme dunkle Gefühl hineinsinken.
Und so wurde ich an dem Tag gefunden. Lächelnd auf dem Straßenrand vor dem Hochhaus, auf dem ich versteckt gewesen war. Meine Eltern waren entsetzt über meinen Tod und weinten bitterliche Tränen. Doch ich? Ich war befreit.
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