Kontrolle
Ich versuche, irgendwie anständig zu atmen. So gut es mir hier drinnen möglich ist, in meinem Käfig. Schon viel zu lange bin ich eingesperrt, langsam geht mir die Luft wieder aus. Nichts möchte ich lieber, als hier rauszusteigen, aber ich kann nicht. Ich habe keine Kontrolle darüber, was mit mir passiert. Meine Entscheidungen treffe ich schon lange nicht mehr selbst. Die Tür öffnet sich. Endlich bekomme ich wieder einmal frische Luft, endlich lässt sie mich wieder einmal raus, wieder einmal die Sonne sehen. Gerade will ich nach den Sonnenstrahlen greifen und mein bisschen Freiheit genießen, als ich ihr Gesicht sehe und mir die Freude über das bisschen Abwechslung sofort wieder vergeht. Die Art, wie sie mich schelmisch angrinst, lässt mich ein bisschen zusammenzucken. Sie weiß, dass sie mich unter Kontrolle hat. Dass sie nur an der richtigen Schnur ziehen muss, damit ich mich genauso bewege wie sie das gerne hätte. Sie zeigt mir das jeden Tag wieder aufs Neue. Dass sie hier die Stärkere ist und ich zu machen habe, was sie von mir verlangt. Ich hüpfe aus dem Käfig und versuche davonzurennen, wie jeden Tag. Es ist meine Art des Protests, meine Art ihr zu zeigen, dass ich mich selbst noch nicht ganz aufgegeben habe. Auch wenn ich genau weiß, dass es sich gar nichts bringt, dass sie mich schon nach ein paar Metern zurückziehen wird. Aber heute komme ich weiter. Laufe ich schneller als sonst, oder was ist hier los? Warum spüre ich diesen Schmerz heute nicht, der immer aufkommt, wenn mein Fluchtversuch wieder einmal scheitert? Ich renne weiter und weiter, immer schneller. Sehe wunderschöne Orte aus meiner Vergangenheit, aus einer Zeit, in der ich noch selbst die Kontrolle hatte. Schon seit Ewigkeiten war ich nicht mehr so weit von ihr entfernt und es fühlt sich unfassbar gut an. Lässt sie mich jetzt endlich raus aus dem Käfig? Lässt sie mich jetzt endlich wieder richtig leben? Genau in dem Moment, in dem ich glaube, frei zu sein, kommt er. Der Schmerz, den ich so gut kenne, jeden Tag aufs Neue spüre. Ich werde nach hinten zurückgezogen, an einer Schnur, die sie in den Händen hält. Es tut mehr weh, als je zuvor. Sie hat das mit Absicht gemacht. Sie wollte mich leiden sehen. Wollte, dass mir endgültig bewusst wird, dass ich niemals wieder mehr sein werde als ihre Marionette. Noch ein bisschen von den Nachbeben des Schmerzes betäubt, steige ich wieder in meinen Käfig und versuche ihr ja nicht in die Augen zu schauen. Ich will ihr schreckliches Grinsen nicht sehen. Manchmal frage ich mich, warum sie mich überhaupt rauslässt. Warum sie mich quält, was es ihr bringt. Wenn sie wollte, könnte sie mich einfach im Käfig lassen. Sie könnte mein Leben damit beenden, mich für immer auslöschen. Aber anscheinend gibt es so schnell kein Ende für mich, ich muss noch länger durchhalten. Es scheint, als schaffe sie es einfach nicht, mich loszulassen. Den Menschen, der sie einmal war. In einer Zeit, bevor die Dunkelheit sie eingenommen hatte.
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