KOPF. SPRUNG.
Etwas abseits der Liegewiese, direkt am Seeufer, stand ein Sprungturm, vor dessen Leiter ein Schild angebracht war: Geschlossen. Nur wer genau hinsah, konnte erkennen, dass auf der obersten Plattform, in etwa 10 Metern Höhe, ein Junge saß. Die Beine waren an seinen Körper gezogen, die Augen geradeaus gerichtet.
Er kam gerne hier her. Um nachzudenken.
Getraut zu springen hatte er sich noch nie. Doch dieses Mal würde er es schaffen, das spürte er. Er wusste es. Heute würde er nicht mehr kurz vor dem Absprung kehrt machen. Nein, nicht einmal umdrehen würde er sich. Mit einem Kopfsprung würde er in das kühle Wasser eintauchen und schwimmen. Schwimmen, vielleicht bis ans andere Ende des Sees. Fast wie sein Großvater es damals getan hatte. Damals, als er noch schwamm, jeden Tag, mindestens eine Stunde lang. Sein Großvater, dessen Traum es immer gewesen war, einmal den Ärmelkanal zu durchschwimmen. Doch plötzlich, vor exakt einem Monat: Herzinfarkt, Blaulicht, Tod. Nichts mehr zu machen.
Er fehlte ihm. Noch immer.
Langsam stand er auf und näherte sich der Kante des Sprungbretts. Schritt für Schritt. Schritt für Schritt. Der Atem wurde schneller. Er kniff seine Augen zusammen, dann blieb er stehen. Ganz ruhig. Keine Bewegung. Nur seine Hände, die zitterten. Die Höhe war es, die seine Gedanken Achterbahn fahren ließen. Er hatte Angst, und freute sich dennoch.
Er würde springen. Für den Großvater.
Langsam, ganz langsam ging er in die Knie. Drei, zwei, eins. Jeder Muskel seines Körpers spannte sich an. Absprung. Den Kopf voran glitt der Junge durch die Luft. Obwohl es nur für wenige Sekunden war, kam es ihm vor wie Minuten. Vor seinen Augen spielte sich alles wie in Zeitlupe ab. Der steinerne Tischtennistisch, der kleine Kiosk, die mächtige Eiche, die ganze Welt stand plötzlich auf dem Kopf und der Junge bekam sie in diesen Sekunden aus einer gänzlich anderen Perspektive zu sehen: kopfüber.
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