Kotze
Ich wischte mir den Speichel von den Lippen. Mein Mund war trocken.
Ich fuhr mir über das Gesicht; ein paar Strähnen klebten an meiner Backe. K. wollte mir die Haare halten, aber war dann selbst zu dicht dafür.
Ich schaute runter. Unter mir hatte sich ein kleiner See gebildet, gelb und rot. So muss der Styx aussehen, dachte ich. Hässlich blickte er uns und den anderen Beinahe-Toten entgegen, die sich um mich scharten. Zumindest sind wir nur beinahe-tot. Denn wir Hirsche sterben stets im Straßengraben, und davon gibt’s keine in der Großstadt.
Der Hirsch am Etikett ist doch so unschuldig, so will er uns doch nicht sehen.
Morgen maturier‘ ich, lallte K. , und griff zur grünen Flasche. K. war ein Schatten; aber auch nur weil ein großer Scheinwerfer stets über ihn wachte. So begann sein Schattendasein. Ohne Mühe schien K. durchs Leben zu tänzeln, vorbei an jedem Hindernis. Er ist unsterblich, dachte ich früher, er wird nie den Styx queren müssen. Nur meinen, dessen Ausläufer sich gerade den Weg über den Gehsteig zur Straße bahnten. Sogar meine Kotze flieht vor mir.
Aber heute, wenn ich K. am Gehsteig treffe, nun auch schon unter der Woche, wirkt er magerer. Keinem fiel es auf, außer mir, oder keiner wollte es bemerken. Seine Wangenknochen bohrten sich durch die blasse Haut. K. schwand langsam. Mit halbgeöffneten Augen schaute er mich an, dann auf den Styx. Ich wusste, dass er heute wieder bei mir schlafen würde. Damit der Scheinwerfer nichts bemerkt. Aber er weiß es eh. K. übernachtet nicht bei Freunden, K. durchnachtet am Gehsteig.
Das Toilettenfenster war offen. In der Kabine fickten zwei Jugendliche. Ich sah sie nicht, aber ich hörte ihr Stöhnen. Keiner stöhnt wie Jugendliche, ich wusste es ja, ich war ja selbst einer. Manchmal denke ich, jeder Mensch hat ein gewisses Maß an Ektase. Und sobald sie aufgebraucht ist, lernst du, ohne sie zu leben oder verfällst, weil du etwas begehrst, was du einst besser kanntest als dich selbst, dir nun aber bis zum Tod verwehrt ist. Niemand ist unsterblich, außer Jugendliche. Weil sie keine Kinder sind, aber auch noch nicht erwachsen. Man wird zu Quasi-Göttern. Zwei, drei Jahre suhlst du dich in deinem gottgleichen Stadium und der Ektase. Wer muss schon auf sich aufpassen, wenn er nicht sterben kann.
Doch niemand ist für immer Gott, und spätestens dann, wenn du eigentlich maturieren solltest, schwindet die Ektase. Die Flügel brechen, ein Wirbel nach dem anderen. Du stirbst. Querst du nun den Styx? Ein Straßengraben öffnet sich. Jugend ist kein Pflaster, was du schnell abreißt, sobald sie vorbei ist. Jugend ist zäh, vergönnt dir keinen raschen Abschied. Klebt sich an deine Fersen und lässt dich spüren, wie du sie verlierst. Und zum ersten Mal im Leben merkst du, dass dir der Boden unter den Füßen abhandengekommen ist, irgendwo zwischen dem hirsch-dasein und dem sich-die-kotze-von-den-lippen-wischen.
Ein paar Strähnen klebten an meiner Backe, und ich strich sie zur Seite. Niemand von uns ist ein Gott, nichtmal K.
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