Lass mich dir etwas zeigen
„… und dann durfte ich ein Praktikum bei der Marketingabteilung von Volkswagen machen. Dort habe ich erst gelernt, was für Wunder man unter Zeitstress vollbringen kann!“
Die Blonde im Stuhl vor mir lacht leise, während sie sich ein paar Notizen macht. Ihr Kollege scheint eine andere Sorte Mensch zu sein – in seinem Gesicht lässt sich keine Regung erkennen. Die letzten 15 Minuten hat er mich statuenhaft inspiziert. Vielleicht liegt es an seiner ermüdend ernsten Persönlichkeit, vielleicht am Botox. Auf jeden Fall rümpft er kurz seine Nase – oder probiert es –, bevor er sich zu Wort meldet.
„Eine letzte Frage noch, Frau Reiml, dann haben Sie es geschafft: Wo sehen Sie sich in zehn Jahren? Was für eine Bilanz wollen Sie dann ziehen können?“
Bastard. Als ob das irgendeine Relevanz für diese Stelle hätte, es geht um einen verdammten 4-Jahresvertrag. Was für zehn Jahre? Ich schwöre, dieser Job… Egal, einfach etwas Professionelles sagen und nett lächeln – das hat schon bei der mündlichen Matura funktioniert.
„Ich würde gerne weiterhin im Bereich der public relations arbeiten. Mein Ziel ist es, mich durch meinen Fleiß und-“
„Frau Reiml, ich möchte wissen, wo sie sich als Mensch sehen. Wirklich sehen. Nicht irgendein Business-Geschwätz, an das weder Sie noch ich glaube.“
Alles klar, Mensch ohne Emotionen will von einem anderen Gefühlsregungen sehen. Was für eine Scheinheiligkeit.
„Wir wollen hier Echtheit oder nichts.“
Welch Ironie! Du willst etwas Echtes sehen? Glaub mir, ich kann dir etwas Echtes zeigen. Ich kann dir so viel Echtes zeigen, dass du es nicht aushältst. Dass du diesen Raum verlässt, um runterzukommen. Dass du dich auf der Herrentoilette verschanzt, damit die anderen deine glänzenden Augen nicht sehen. Aber ich will ja diesen Job, also tiefdurchatmen… Hier, die „professionell emotionale“ Antwort.
„Ich würde gerne etwas erreicht haben.“ Damit ich ihnen – falls ich sie je wiedersehe und, Gott, ich hoffe, ich tue es – zeigen kann, was aus mir geworden ist. Was für einen Fehler sie begangen haben. Dass man nicht mit Zündhölzern spielt, wenn man kein Feuer bändigen kann. Die Bühne soll meine sein.
„Ehrlich gesagt, ich möchte sehen, wie viel ich erreichen kann, wenn ich mich ins Zeug lege, wozu ich fähig bin.“ Und das ist viel. Glaub mir, die ganzen Steine, dir mir in den Weg gelegt wurden, ich habe sie alle zurückgeschleudert. Don’t mess with me, ich habe Träume und Wünsche. Eine ganze Menge, sanfter als meine Geschichte, bunter als ein Garten voller Blumen. Und ich werde mir jeden einzelnen erfüllen. Wartet nur ab.
„Außerdem will ich gelebt haben, ich wünsche mir, dass ich meine Zeit sinnvoll nutze und viel sehe! Ich habe das Leben gespürt – das muss ich behaupten können.“ Und wie ich leben werde, mehr als alle zusammen. Schaut nur zu. Meine Show hat längst begonnen.
„…so muss es sein, ansonsten war meine Zukunft nie die meine, sondern die eines anderen!“
Auf dem einförmigen Gesicht bewegt sich ein Mundwinkel nach oben.
„Geht doch.“
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