Lass mich los
Eines Nachts als ich das Tagebuch meiner Mutter aufschlug, überkam mich eine Welle der Sehnsucht und des Schmerzes. Die vergilbten Seiten waren für mich der einzige Ort, an dem ich ihre Stimme hören konnte.
Ich stieß auf eine Passage, die ich zuvor nie wahrgenommen hatte: „Die Erinnerungen sind der Schlüssel zur Zeit.“ Ich las die Worte laut vor. Plötzlich umhüllte mich ein Licht, und ich fand mich in meinem alten Wohnzimmer wieder. Und da war sie-meine Mutter, jung und lebendig, wie ich sie in Erinnerung hatte. Mein Herz raste vor Freude, während ich zu ihr lief und in ihre Arme fiel. „Lilly, mein Schatz!“, rief sie, und der Klang ihrer Stimme war wie Musik in meinen Ohren. Diese Vereinigung war alles was ich mir gewünscht hatte.
Mit jedem Treffen wurde mein Verlangen, die Vergangenheit zu ändern, stärker. Was wenn ich die Umstände, die zu ihrem Tod geführt hatten, beeinflussen könnte? Ich begann meine Besuche strategisch zu planen, sprach mit ihr über Dinge, die ich von der Zukunft kannte, gab ihr Ratschläge, und zunächst schien alles gut zu gehen.
Doch je mehr ich versuchte, die Vergangenheit zu ändern, desto mehr begann die Gegenwart zu zerfallen. Die Gesichter meiner Freunde wurden fremd, und die kleinen Dinge die einst meinen Alltag bestimmt hatten, begannen zu verschwinden. Die Erinnerungen, die ich mit anderen geteilt hatte, schienen sich in Luft aufzulösen.
Nun stand ich meiner Mutter gegenüber, ihr Blick voller Sorge. „Lilly, warum machst du das?“, fragte sie. In diesem Moment wurde mir klar, was ich tat. Ich wollte sie retten, aber was opferte ich dafür? Die Fäden der Realität um mich zerbrachen. Ich wusste, dass ich nicht einfach die Vergangenheit ändern konnte, ohne der Gegenwart zu gefährden. Aber ich konnte nicht aufhören. Die Vorstellung, meine Mutter nochmals zu verlieren, war mir unerträglich. Ich umklammerte ihr Tagebuch fester und beschloss, weiter die Vergangenheit zu ändern.
Jede Veränderung hatte ihren Preis, und ich begann die Konsequenzen meiner Handlungen zu spüren. Die letzte Reise fühlte sich anders an. Als ich in das Wohnzimmer trat, war alles anders. Die Luft war schwer und erfüllt von einem unheimlichen Schweigen. Meine Mutter war da, aber sie wirkte distanziert. „Lilly, du musst mich loslassen“, sagte sie mit einem Ausdruck, der mir das Herz brach. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich nicht nur versucht hatte, die Vergangenheit zu verändern-sondern auch meine eigene Zukunft ruiniert hatte.
Verzweiflung überkam mich, doch ich wusste, dass ich nicht in dieser Zeit verweilen konnte. Ich kehrte in die Gegenwart zurück. In diesem Augenblick war die Welt um mich herum fremd, und die Menschen, die ich einst geliebt hatte, schienen mir entglitten. Ich war von Stille umgeben. Das Tagebuch lag nun vor mir, eine stumme Erinnerung an das, was ich einmal gewesen war. Ich war allein, gefangen zwischen den Erinnerungen und der Leere der Realität.
In diesem Augenblick merkte ich, dass ich alles zerstört hatte. Alles.
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