LAUFEN
Ich sehe aus dem Fenster. Die kleinen Wassertropfen, die die Scheibe hinunterrinnen, werden immer mehr. Wenn es hier drin nicht trocken wäre, hätten sie mich wahrscheinlich schon längst erschlagen. Ich folge mit meinem Zeigefinger den immer größer werdenden Tropfen. Vor lauter Kälte kann ich meine Fingerkuppe nicht mehr spüren. Ich lehne meine Stirn gegen die Scheibe. Draußen kann ich den Wind und den Regen gegen die Hauswand peitschen hören. Ein leises Rauschen fahrender Autos mischt sich darunter. Ich schließe meine Augen. Das Prasseln wird immer leiser. Plötzlich wird es ganz still. Ich kann nicht einmal mehr meinen angestrengten Atem hören. Mein Puls wird schneller ich beginne zu schwitzen.
Ich reiße meine Augen auf. Ich laufe eine Straße entlang. Vor Schreck stolpere ich fast. Mein Atem beruhigt sich wieder und ich laufe gleichmäßig weiter. Die Bäume um mich herum rascheln im Regen, und mir peitscht das Wasser ins Gesicht. Mir ist eiskalt aber es macht mir nichts aus. Warum und wohin ich laufe, weiß ich nicht. Es fühlt sich einfach gut an. Meine Beine erlauben es mir nicht, stehen zu bleiben. Die Anstrengung ist einfach weg. Alles in meinem Körper entspannt sich. Vor lauter Wasser im Gesicht habe ich nicht gemerkt, dass ich schon seit Minuten weine. Ein Ventil, für alles. Ich kann nicht mehr aufhören zu weinen. Die Tränen strömen nur so meine Wangen hinunter. Ich beginne zu schreien. Ich kann schreien, ohne dass mich jemand hört. Ein Gefühl, das ich so nicht kenne. Der Regen hört plötzlich auf. Meine Stimme verstummt. Meine Beine bleiben stehen. Alles ist wie eingefroren. Vor meinen Augen wird es schwarz.
Ich reiße meine Augen auf. Ich sitze wieder vor dem Fenster. Der Regenschauer wütet noch immer ununterbrochen. „Können wir noch?“ sind die ersten Gedanken, die mir einfallen. „Was?“ frage ich mich selbst. „Noch mal frei sein.“ antwortet mein Ich.
„Noch können wir.“
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