Letzte Worte, aber das weißt du ja
Hohes Universum,
Tempus hier. Heute lasse ich dich zum 21122012. Mal an meinen Gedanken teilhaben. Schon 1945 Jahre verbringe ich jetzt auf dem Kontinent, den die Menschen Europa nennen. Die letzten sechs Jahre haben sie sich gegenseitig lauter Verachtenswertes angetan. Aber das weißt du ja.
Immer öfter wünsche mir die Anfänge meiner Existenz zurück. Die Tage, als ich bei den ersten Stämmen war, denen ich Trost spendete. Die sich als erste in Krisenzeiten an mich, Tempus, ihren Gott der Zeit, richteten und für eine bessere Zukunft beteten. Diesen schlussendlich 1453 Menschen, die in einem harschen Winter den Hungertod starben, nachdem selbst strikte Rationierungen nichts gebracht hatten. Ihnen konnte ich selbst in ihren letzten, dunkelsten Stunden Kraft und Trost spenden. Aber das weißt du ja.
Seither richteten sich die Menschen nie wieder direkt an mich. Sie kreierten stattdessen andere Götter. Ein prominentes Beispiel in der Geschichte der Menschen sind die Römer. Neptun um sicheres Geleit auf See zu bitten, heißt, mich darum zu bitten. Es geht schließlich darum, eine gewisse Zeit unbeschadet zu überstehen. Venus anzuflehen, sie möge einem das Geschenk der wahren Liebe zuteilwerden lassen, heißt, mich darum zu bitten. Es geht schließlich darum, Zeit mit einer geliebten Person zu verbringen. Ceres Opfer darzubringen, um reiche Ernte einzufahren, heißt, mich darum zu bitten. Es geht schließlich darum, den Pflanzen eine Zeit des Lebens, der Blüte und des Wachstums zu gewähren. Mindestens 1492 andere, vermeintliche Götter fallen mir auf Anhieb sonst noch ein. Alles leere Hüllen, hinter denen ich stehe. Aber das weißt du ja.
Geschaffen als Gott, unterliege ich doch Gesetzen, die mich binden. Mir ist es versagt, durch die Zeit zu reisen. Die Stämme schufen mich als Stütze für die Gegenwart und die unmittelbare Zukunft. Ich existiere, so wie sie es taten. Wie es alle Menschen tun. Existiere im Jahr 110901 des gregorianischen Kalenders. Auch räumliche Gefangenschaft muss ich erdulden. Ich habe keinen Körper, ich bin einfach. Jedoch nur dort, wo es auch Menschen gibt. Apollo 18 hat den Mond kolonisiert. Für ein halbes Jahrhundert war der Mond auch meine Heimat. Bis jenes Unglück geschah, das das Ende für die Expansionsfantasien der Menschheit bedeutete. Jahrtausende sind seither vergangen. Sie leiden immer noch an diesem kollektiven Trauma. Aber das weißt du ja.
Vor 1095 Jahren fing es an. Die Ablehnung von Theologien. Die Entwicklung einer Gesellschaft, die ohne höhere Mächte auskommt. Einer Welt, in der der Mensch wieder mit statt gegen die Natur arbeitet. Wo Moral auf Logik, nicht auf heiligen Schriften basiert. Daran muss ich denken, während ich am Krankenbett von Werner bin. Dem letzten wirklich Gläubigen auf der Welt. Hochbetagt und abgemagert liegt er da, sein Glaube unerschütterlich. Langsam gleitet er in den Schlaf. Heute Abend zum letzten Mal in seinem Leben. Und mit seinem kommt auch mein Dasein zu einem Ende. Aber das weißt du ja.
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