Linien
Was zunächst nur nach einer erfundenen Geschichte klingt, wurde zur Realität in der namenlosen Stadt, an dem namenlosen Ort, bewohnt von namenlosen Menschen. Jeder wurde einfach nur „du“ genannt, keiner hatte so etwas wie einen Eigennamen. Jeder, der in dieser Stadt lebte, musste sich den strengen Regeln des „Gleichseins“ unterwerfen. Es waren skurrile Regeln, von denen niemand wusste, wer sie wirklich erfunden hatte. Alles in dieser Stadt wurde durch Linien bestimmt. Die Eltern, der Partner, der Job, das Einkommen. Und so kam es, dass jeder ein eigenes Lebensdiagramm hatte, worauf die wichtigsten Ereignisse im Leben vermerkt waren. Selbstverständlich nicht mit Worten, sondern Linien. Im Grunde genommen war es eine einfache Politik: Man hatte ein großes Lebensdiagramm, worauf man sein eigenes Schicksal bestimmen konnte. Es war ein simples Prinzip, das einzige, was man tun musste, war eine Linie zu ziehen. Je gerader diese war, desto reicher die Eltern, desto höher die Wahrscheinlichkeit, den Partner selber wählen zu können, desto besser der Job und desto höher das Einkommen. Schlichte Linien. Natürlich waren dies bei weitem nicht alle Stationen, die ein Mensch während seines Lebens durchlief. Für alltägliche Entscheidungen, wie das Essen, die Wahl der Kleidung, die Transportmöglichkeiten und die eigene Leistung wurden kleinere Lebensdiagramme verwendet: gerade Linien, gestrichelte Linien, steigenden Linien, wellende Linien, steile Linien. So war das Leben jedes Einzelnen in der namenlosen Stadt geregelt und doch hing es von einem selber ab, wie seine Zukunft aussehen würde. Vielleicht war dies auch der Grund, weshalb es nie Aufstände gegen eine solche Einschränkung des Individualismus gab. In einer gewissen Art und Weise konnte man immer noch selber seine Entscheidungen treffen.
Doch wie so oft im Leben ist etwas, das so simpel und eintönig klingt, doch schwieriger, als man denkt. Ein Mensch ist nicht perfekt und so versagt die menschliche Motorik ab einem gewissen Punkt und plötzlich sieht man eine Kurve in der Linie, die eigentlich gerade sein sollte. Es entstand eine Ober- und Unterschicht. Bestimmte Menschen waren benachteiligt, wurden unfair behandelt und dies alles nur wegen einer Kurve in einer Linie. Doch nun die Frage: Liegt es wirklich an der Kurve, einer einfachen Biegung in einer Linie? Oder sind es vielleicht doch die Menschen, die die Kurve als etwas Negatives einstufen, die für das Unheil auf der Welt sorgen? Viele Generationen haben schon versucht, mithilfe der verschiedensten Methoden eine faire Welt zu erschaffen und doch versagten alle. Am Ende ist es der Mensch selbst, der versagt, die Linie zu ziehen.
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