Litanei einer Sterbenden
Es neigt sich dem Ende zu. Ich kann es nicht mehr leugnen, so gerne ich es auch würde. Meine Hände sind faltig geworden, Gelenke geschwollen, Rücken krumm. Und auch das Licht in meinen Augen ist schwach, ein Flackern wo einst ein Feuer war. Doch fürchte ich mich nicht. Ich laufe nicht weg, versuche nicht, vergebens zu fliehen. Es ist unverhinderbar, unaufhaltbar, allgegenwärtig. Ich habe mich damit abgefunden. Es hätte schlimmer hergehen können. Dinge geschahen, wie sie geschahen, Worte fielen, wie sie fielen. Ändern kann ich es jetzt auch nicht mehr. Und schon gar nicht betrauern. Ich kann nur mehr zurückblicken. Mit einem sanften, schwachen Lächeln mich der Nostalgie hingeben. Es war ja eine schöne Zeit hier. Viel gelacht habe ich. Und getanzt. Es fehlte mir nicht an Speis und Trank, ich hatte immer ein Dach überm Kopf. Wie gesagt, hätte schlimmer hergehen können. Aber ich habe mit dem Wort“hätte” abgeschlossen. “Ach, hätte ich nur…” bringt mir auch nichts mehr. Ich habe viele Dinge nicht gesagt, die ich vielleicht damals für richtig empfand. Ich habe vieles nicht getan, obwohl es meines Erachtens eine bessere Idee war. Ich tat mein Bestes. Das genügt. Und ich weiß noch immer viele Dinge nicht. Zeitens meines Lebens habe ich nie die Frage geklärt, was eigentlich der Sinn hinter dem Ganzen ist. Oder welche Überzeugung eigentlich die richtige ist. Beziehungsweise ob es überhaupt etwas wie eine richtige Überzeugung gibt. Ich hoffe nur, dass das Leben, in das ich bald komme, barmherzig ist. Dass die Mäuse, die in erbarmungslosen Fallen zugrunde gehen, einen Magen voll warmen Essen haben, und weiches, flauschiges Fell. Dass die Rehe, die in der Nacht von unachtsamen Fahrern erfasst werden, eine ungezügelte Freiheit genießen. Dass die Kinder, die den Machtspielen erwachsenen Männern zum Opfer fallen, alle miteinander spielen können. Dass diese Welt netter ist als unsere. Aber ich weiß es nicht. Ich werde es bald erfahren, denke ich. Hoffe ich schon fast. Lange möchte ich nicht hier bleiben. Es gibt mir zu viel Leid, zu viel Streit, zu viel Gebrüll. Bald wird alles leise sein… Ich sehe ihn schon. Thanatos. Er ist… nicht so wie ich ihn mir vorstellte. Er ist nicht so groß, keine Gruselfigur in Schwarz. Und auch ohne Sense. Schade, irgendwie. Ich dachte, er sei… anders. Aber er ist ruhig. Leise. Nicht wirklich imposant, wenn er vor einem steht. Er setzt sich an mein Bett. Nimmt meine Hand in seine. Ich schlafe ein.
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