Loslassen
„Wenn es eine Warnung gegeben hätte, hättest du sie hören wollen?“
Er sieht mich ernst an, tut so, als wüsste er nicht ganz genau wie meine Antwort sein würde.
„Ich weiß es nicht. Ehrlich nicht. Aber das habe ich dir schon vor Wochen gesagt.“
Ich fahre mir durch die Haare, die jetzt so kurz sind. Ich wollte etwas ändern. Und wenn ich schon die Welt um mich nicht ändern kann, so wollte ich das zumindest mit mir tun.
Er verschränkt seine Finger ineinander. „Du weißt, dass eine Warnung es nicht geändert hätte?“
Er kommt mit genau den gleichen Argumenten wie immer.
„Aber ich hätte mich vorbereiten können, Noel. Ich hätte…“
Jetzt lächelt er. „Ja? Was hättest du?“
Er hat gewonnen. Schon wieder. „Ich hätte die Zeit mehr genossen.“
Noel nickt. Er lächelt zwar jetzt nicht mehr, aber ich sehe seinen Blick, weiß, was er denkt. Er meint, ich hätte die Zeit so oder so nicht mehr genossen, sondern ich hätte nur Angst gehabt. Angst vor dem Ende. Angst vor dem Alleinsein.
Die nächsten Tage lässt Noel mich in Ruhe. Aber in mir kommt kein Lebenswille auf. Ich fühle mich müde, erschöpft. Lebensmüde. Ich weiß, dass ich meine Zeit nicht damit verbringen sollte mit Noel zu diskutieren, das sollte ich eigentlich überhaupt nicht tun. Im Gegenteil, mit Noel die Vergangenheit zu diskutieren ist eigentlich lächerlich. Aber ich muss. Ich komme nicht von diesen Erinnerungen weg, von diesem Film, der sich immer und immer wieder in meinem Kopf abspielt. Und Noel ist der Einzige, der von Anfang an dabei war. Er ist der Einzige, der all meine Gedanken und Meinungen kennt. Der mich aus diesem Unmut rausholen kann, der mich beherrscht.
„Hör bitte auf zu weinen, das ist es nicht wert.“
Ich funkle ihn finster an. Ich hasse ihn manchmal, gar nicht so sehr, weil er sich immer einmischt, sondern vor allem deshalb, weil er recht hat.
„Was soll ich machen? Ich kann nun einmal nicht loslassen.“
Noel lacht. Er lacht, allen Ernstes.
„Das habe ich gemerkt.“
„Okay, dann zeig ich dir mal, wie ich was anderes loslasse.“
Er legt den Kopf schief.
„Gut. Mach es. Zeig mir, wie du mich loslässt.“
Aber ich kann nicht. Noch nicht.
Er hat nichts anderes erwartet. „Lass es mich wissen, wenn du den Mut dafür aufbringst.“
Erst Tage später weiß ich, dass ich loslassen muss. Sonst werde ich mich, früher oder später, verlieren.
„Noel?“
Natürlich ist er sofort wieder hier. Er hat nur darauf gewartet.
„Pass auf, dass du nicht übermütig wirst. Lass erst einmal nur mich los, nicht alles andere. Egal, wie richtig du denkst, dass es ist. Sonst wirst du allein dastehen. Und dafür bist du noch nicht bereit.“
Innerlich balle ich die Fäuste. Und ob ich dafür bereit bin.
„Mach’s gut, Noel.“
Er hebt die Hand, ich will ihn so gern umarmen. Aber es geht nicht. Natürlich nicht.
Noel existiert nur in meinem Kopf. Und dort sollte er auch bleiben.
Und als ich mich von allem anderen auch verabschiede, weiß ich, dass er recht hatte. Ich war übermütig. Und jetzt bin ich allein.
„Noel?“
Aber es ist zu spät. Er antwortet mir nicht mehr.
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