Mahagonibraun
Strich, Strich, Punkt, Pause, Zigarre rauchen, Strich, Strich, Pause, Anschauen
(zwei Stimmen)
Nein, nein, nein! Du musst von neu beginnen. Es ist doch perfekt! Das glaubst auch nur du! Die Linien müssen schön rund sein. Zeichne es besser! Ich kann nicht mehr! Seit zweiundsiebzig Stunden einunddreißig Minuten und zwölf Sekunden sitze ich hier und mit jeder weiteren Sekunde verschwinden meine Erinnerungen. Zeichne, na los! Aber es gleicht schon fast der Perfektion. Und du weißt, dass Perfektion unmöglich ist. Unmöglich! Du Schwächling! Beim Anbetracht deines Werkes wäre sie enttäuscht. Nein sie wäre stolz, dass ich mich nach all den Jahren noch an sie erinnern kann! Du bist ein Lügner, ja ganz genau ein Lügner und ein Angsthase. Nenn mich keinen Angsthasen. Du warst auch dort. Hat da etwa jemand Angst?
„Seid still“, schrie er mit solch einer Wucht, dass er selbst verwundert war, woher diese Energie kam. Es forderte ihn einige Minuten, bis er bemerkte, dass er die einzige Gestalt in diesem Raum war. In diesem Raum, welcher von seinem Zigarrenrauch umhüllt war. In diesem Raum, welcher seine Erinnerungen weckte und zugleich verblassen lies. Ja in diesem Raum war er ganz alleine.
Der ältere Mann setzte sich hin, richtete seine Haare, rauchte seine Zigarre und widmete seine ganze Aufmerksamkeit seiner Zeichnung.
Strich, Strich, Punkt
(ein lauter Knall)
Er lachte. Schaute aus dem Fenster. Stand auf. Nahm einen Stift in die Hand und machte ein Kreuz auf seinen Kalender. „Achtzehn sind es schon. Bald wird es auch mich treffen“, wisperte er leise und setzte sich wieder hin.
Strich, Strich, Punkt, Strich, Pause, Anschauen
(ein Klopfen)
Eine ältere Dame, an dessen Händen man merkte, dass sie doch nicht so alt war, betrat den Raum und näherte sich dem Mann. „Das sind ja schöne, braune Augen“, sagte sie mit einer Stimme, bei der man die Faszination nur so heraushören konnte. Der Mann stoppte, musterte die Frau und erwiderte: „Die sind nicht braun, sondern mahagonibraun! Die Farbe der heißen Schokolade, die sie mir damals immer zubereitet hat“ „Ja klar! Aber das ist jetzt auch schon egal. Sie müssen jetzt ihre Medikamente einnehmen!“ forderte die Dame.
Im Hintergrund hörte der alte Mann lachende Kinder, welche sich am Kinderspielplatz vergnügten.
„Keine Zeit! Ich muss es vollenden“, sagte er eilig und setze seine Arbeit fort. Die alte Schwester aber ließ nicht nach und erwiderte: „Sie wissen, dass sie ihre Medikamente jetzt einnehmen müssen.“ Der Mann aber zeichnete mit Eile weiter und hörte weiterhin im Hintergrund lachende Kinder. Die Frau wurde wütend, packte ihn am Arm und fragte ihn: „Warum nehmen sie nicht Ihre Medikamente?“ „Weil es zu spät ist! Sie ruft mich.“
Strich, Strich, Punkt
Er blickte aus dem Fenster. Das Sonnenlicht blendete ihn, aber eine Kraft hielt ihn davon ab wegzuschauen.
Strich, Strich
„Ich komme“, sagte er.
Strich
Und er lief zu der Frau mit den mahagonibrauen Augen. Er lief dorthin, wo er sie das letzte Mal verloren hatte.
Strich!
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX