Maisblätter
Die Abendsonne knallt auf mich und die Maisfelder hinab. Ich greife nach einem weiteren Maisblatt, knicke es an seiner Wurzel ab und reiße es von seinem Stamm weg. Erst knicken, dann ziehen. Hat Mama gesagt, nachdem ich ihr gestern beschämt grinsend die Schnittwunde vorgehalten habe. An meinem linken Zeigefinger, eine dunkelrote Kruste hat sich auf der tiefen Einkerbung gebildet.
Nur, weil ich nicht geknickt habe.
Das Blatt klemme ich zu den restlichen Blättern zwischen meinen Daumen und den Zeigefinger. Nicht zwischen den Zeigefinger, der verkratzt war. Das wäre dumm. Eine dunkelrote Kruste hat sich schließlich auf der tiefen Einkerbung gebildet.
Die kleinen, feinen Härchen auf den Maisblättern kitzeln an meinen Fingern. Sie sind verschwitzt und klebrig. Der dicke Blätterhaufen, den ich mittlerweile in meiner rechten Hand halte, versperrt der Sonne den Weg auf mein Gesicht. Nicht in der Hand mit dem verletzten Finger. Das wäre dumm. Eine dunkelrote Kruste hat sich schließlich auf der Wunde an meinem Zeigefinger gebildet. Dabei bin ich Rechtshänder. Aber die Kruste. Die kann ich doch nicht benutzen. Nicht die rechte. Die ist verletzt.
Die Autos rauschen auf der Straße neben mir vorbei. Der eine fragt sich, was ich hier mache. Der nächste fragt sich, warum ich so viele Maisblätter in der Hand halte. In der gesunden Hand. Sie hat keine Kruste. Nicht so wie die andere und wieder einer fragt sich, wo seine Zigaretten sind, die er in seinem rostigen VW verlegt hat. Klar, fragen sie sich das. Sie sitzen schließlich in ihrem Auto. Dem rostigen VW. Und sie haben keine dunkelrote Blutkruste an ihrem dicken, rauen Zeigefinger. Wie will man sich schon an Zigarettenpackungen schneiden? Die mit den Bildern von abgestorbenen Körperteilen vorne drauf, die vom Rauchen abhalten sollen. Der Schweiß läuft mir vom Nacken hinab und den Rücken hinunter. Habe ich nun genug? Überlegend mustere ich die Maisblätter in meiner Hand. In der linken. Die hat ja keine Kruste.
Die Maisblätter gleichen einem Blumenstrauß, einem Blumenstrauß aus Maisblättern. Es sind viele. Ich brauche viele. Ich würde die Blätter in meiner Hand halten und sie an die Tiere verfüttern. Nicht die mit der Kruste. Die ist schließlich verletzt. Das wäre dumm.
Sie knabbern die Maisblätter schnell und hastig weg. Sie haben scharfe Zähne. Wir brauchen viel Nachschub. Habe ich genug? Ich muss die Maisblätter immer in meiner Hand halten. In der linken. Die ist gesund. Die hat keine Kruste. Ich müsste in drei Tagen wieder auf die Felder. Dann haben wir keine Maisblätter mehr. Dann muss ich wieder knicken, ziehen. Dann muss ich wieder genug sammeln. Ich halte sie dann immer in meiner linken Hand und verfüttere sie an die Tiere. Habe ich genug? Ein Maisblatt in meiner linken Hand schneidet sich in meinen Ringfinger.
Habe ich nicht schon genug Einschnitte?
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