Mama, vergiss mein nicht!
Mama, kann ich noch ich selbst sein? Was ist, wenn mein Ich nicht existiert und ich vermeintlich nur das Produkt aus vielen anderen Ichs bin. Ich bin nicht, denn mich gibt es nicht. Heute bin ich mir dessen bewusst, morgen bin ich wieder ein anderer. Am Tag darauf will ich sein, dann vergeht eine Weile und mein anderes Ich will nimmer verweilen und eilt davon. Eine Hand hält mich zurück, während mein ganzer Körper den Drang verspürt zu springen. Meine Hand ist stark, aber hält nicht mehr lange durch. Seine Hand will mich nicht mehr und ihre Hand ist schon längst fort. Mama, ich stürze! Kannst du mich noch festhalten, oder hältst du nur sie und ihn fest? Mama, ist dir wohl bewusst, wen du packen sollst? Strecke deine Hand nach meiner aus, auch wenn jene verschwinden soll. Wenn du sie packst, ergreifst du auch mich und dutzende andere Persönlichkeiten, die mich formen, aber bestimmt wirst du auch einen winzig kleinen Teil von mir fassen, doch ich kann dir nicht versprechen, dass du diesen Splitter meiner Selbst genauso lieben kannst, wie deine Tochter, von der du annimmst, sie in dein Herz geschlossen zu haben. Die Tochter ist fort, der Sohn auch und alle davor leben zwar weiter, aber ich weiß nicht mehr, für wie lange, oder, ob sie jemals wiederkommen werden. Mama, ich bin hier, aber doch so weit entfernt. Ich will deine Wärme nur für mich haben, aber ich bin nie allein, denn, wenn ich, ich bin, bin ich viele andere. Ich bin nur ein Tropfen der Zeit, denn bald bin ich eine andere oder gar ein anderer. Ich will bleiben, aber man reißt mich fort und das mit so einer Kraft, dass ich mich nicht wehren kann. Sie wollen auch leben. Sie wollen auch deine Liebe spüren, aber Mama, ich will dich um Himmels Willen nicht verlieren! Sie reißen mich hinab, mein Körper gehört ihnen, nur mein Geist bleibt bei dir. Bitte vergiss mich nicht, auch wenn ich nur kurz bei dir sein konnte. Bitte sehne dich nach mir, wie ich mich nach dir sehne, aber wisse, dass meine Rückkehr ungewiss ist. Sie sind da, sie wollen schon ich sein, aber ich will mich noch. Mama, gibt es ein Wir zwischen uns? Was sind wir überhaupt, wenn ich nicht ich sein kann? Was befindet sich zwischen unserem Wir, wenn ich sie als auch ihn verkörpere. Ich will ich sein, kein anderer und keine andere, aber mein Ich gehört so vielen. Mein Ich muss anderen gehören. Mein Ich darf ich nicht sein. Mein Ich wird nie ein Wir erleben, weil ihr, die ein Wir erschaffen könnt, kein Wir mit mir wollt. Mama, mir schwindet es, sie kommen alle hoch, meine Dämonen wollen heraus und mich haben, aber bin ich nicht selbst einer von ihnen, wenn ich mich will? Mama, kannst du einen Dämon lieben? Mama, können wir noch wir sein?
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