Margarete
Er stand am offenen Fenster und sah hinunter auf die Straße. Es war noch recht früh und die Luft
war angenehm kühl von der Nacht. Draußen saß sie und wippte mit ihrem blonden Kopf in den Tag
hinein. „Guten Morgen Margarete“, grüßte er und setzte sich zu ihr. Er ließ die Füße baumeln bevor
er anfing zu erzählen: „Ich hatte Besuch gestern Abend, Gretchen. Vielleicht hast du sie gesehen, sie
war hübsch, weißt du.“ Margarete wippte mit dem Kopf: Erzähl weiter. „Blond war sie, wie du und
immerzu mit dem Kopf gewippt hat sie. Komisch, aber sie hat mich irgendwie an dich erinnert
Gretchen.“ Margarete neben ihm nickte: Etwas seltsam war das schon.
„Du darfst mir nicht böse sein, aber ich mag sie wirklich gern. Es ist ja schon eine Weile her, die
Sache mit uns beiden, und irgendwann möchte man dann auch wieder an ein Morgen denken. Es
wird anders sein ohne dich Gretchen, aber ich habe genug von der Einsamkeit. Ich möchte bereit
sein für morgen, kannst du mich verstehen?“
Margarete hatte aufgehört zu nicken. Ganz aufrecht saß sie neben ihm und sah hinunter auf die
Straße. Es war doch eine sehr graue Straße. „Du bist so still Gretchen, hat der kühle Wind dir die
Sprache verschlagen? Komm her, ich werde dich wärmen.“ Er streckte sich noch ein Stück weiter
aus dem Fenster und barg ihr Gesicht in seinen Händen. Es verschwand ganz darin. „Tatsächlich“,
sagte er „ganz kalt.“ Dann schwieg er eine Weile, saß einfach da, die Hände um Margaretes Hals
und ließ die Füße baumeln. Und dann: „Ich glaube es ist Zeit.“ Er legte die Finger fest um
Margaretes filigranen Körper und pflückte sie, denn es war Zeit. „Es tut mir Leid Gretchen, aber ich
konnte gestern nicht glücklich sein, weil du da warst und mich erinnert hast. Die Scheibe war fast
schon schwarz vor Dunkelheit aber dein blondes Köpfchen hat zu uns hereingeleuchtet.“ Seine
Lippen streiften ihren duftenden Kopf, als er an ihrem Haarkranz zu zupfen begann. „Sie liebt
mich“, das erste Blatt fiel hinunter auf die Straße, „Sie liebt mich nicht.“ - und immer so weiter
regnete es Margaretes Blüten auf die Straße hinunter. „Wie Schnee“, dachte er, „Weiß und leise und
fast schon wieder verschwunden, meine Margarete. Aber wenigstens ist der Sommerwind jetzt nicht
mehr so kalt.“
„Sie liebt mich!“ Das letzte Blatt segelte hinunter und verschwand im Grau der Straße. „Hast du
gehört?“, flüsterte er dem kahlen Köpfchen in seinen Händen zu. „Sie liebt mich! Und du Gretchen?
Liebst du mich denn noch?“ Der traurige Margeritenrest lag in seinen Händen und rührte sich nicht.
Er hatte verstanden und ließ sie fliegen, in die ewig graue Straße hinein. Ihr blonder Kopf nickte
ihm ein letztes Mal zu: Auf Wiedersehen. Seine Füße baumelten noch, doch dann sah er von der
Straße weg hinauf in den Himmel. Es würde warm werden heute und morgen und die ganze Woche
lang. Es war an der Zeit, etwas zu unternehmen.
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