Meer aus Gedanken
Ich sehe über mir die Decke, mit all ihren Verzierungen. Ich spüre die Kanten der Treppenstufen wie eine geschliffene Statue aus Eis unter mir. Vor ein paar Minuten jagte ich die Stockwerke hoch, mit einer Mappe im Arm, und achtete nicht auf meine Schritte. Ohne Schlaf, ohne Frühstück, gestresst und zitternd. Das habe ich nun davon, jetzt ist es mir egal. Ich hätte es so oder so nicht geschafft. Ich habe Tabletten genommen, die mich wachhalten und beruhigen sollen. Bessere Konzentration, besseres Ergebnis. Mehr Leistung. Andere arbeiten genauso darauf hin wie ich. Ich, die Vieles schaffen kann, zu Vielem in der Lage ist. Nur nicht zu dem, was von mir erwartet wird. Jetzt bin ich gespannt. Lächelnd nehme ich das, was gleich kommen wird, in Kauf.
Die Erschöpfung verstärkt den Effekt um ein Vielfaches. Es ist fast schon wie ein Trip. Ich fühle mich wie auf Wolken, als trügen mich die Treppen durch den Himmel. Doch die Verzierung der Decke ist viel dunkler gefärbt, als ich in Erinnerung habe. Bin ich über den Wolken? Oder treibe ich im Meer, orientierungslos wie ein kleines Boot ohne Ziel? Habe ich ein Ziel, wenn ich orientierungslos im Meer treibe? Nein. Brauche ich überhaupt irgendetwas, wenn ich mal dazu kommen sollte? Ich bräuchte nicht mal mehr das Bewusstsein. Ich würde zu nichts anderem mehr kommen, als zu dem, was ich ohnehin schon tue. Verloren in einem Meer treiben. Ein Meer aus alldem, was man sich vorstellt. Aus Allem, was das Leben ausmacht, in Kombination mit der lauten Musik aus den Kopfhörern, dem Fensterbrett auf dem man sitzt, nachts, in einem fremden Zimmer, in dem man nicht sein will. Weitere vier Minuten und fünfundzwanzig Sekunden, in denen man die Realität vergessen kann.
Aber über mir sehe ich die Wolken. Ich bin noch da, und froh, die Steintreppen unter mir zu haben. Durch sie werde ich in meinen Einbildungen niemals fallen.
Während mich das Gefühl der Schwerelosigkeit verlässt und die Realität langsam wieder einkehrt, versuche ich, mit der Faust etwas zu treffen. Ich will etwas Reales spüren, das mir festen Halt verspricht und mich im schlimmsten Fall festhält, egal was kommt. Ich hole aus – und treffe mit voller Wucht in eine ausgestreckte Hand.
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