Mehrfarbig
Meine Augen blicken die Tasten des Klaviers an, aber sehen sie nicht. Nicht mehr.
Starren das Notenblatt darüber an, aber sehen es nicht. Nicht mehr.
Ich lasse meine Finger über die Tasten wandern. Stimme eine Melodie an. Tief. Leise.
Ein Jahr ist vergangen, seit ich das letzte Mal gespielt habe. Seit ich die Tasten und Noten zum letzten Mal sah. Statt schwarz-weißer Tasten sind da jetzt nur noch Flecken. Helle und dunkle. Früher hingegen … früher war alles farbig.
Ich schluchze und lasse die Hände sinken. Der salzige Geschmack von Tränen legt sich auf meine Lippen. Früher war alles farbig …
Ich atme ein. Aus. Wische die Tränen ab. Beginne erneut zu spielen.
Diesmal vereinzelte Töne – hoch und tief. Sie erinnern an das Knirschen von Blättern unter meinen Stiefeln. An ockergelbe, orange und weinrote Blätter, am Boden und in den Baumkronen. An rehbraune Stämme und Wurzeln, die sich aus der Erde schraubten. An Pilze und moosgrüne Farne.
Sie erinnern daran, wie ich in die Knie ging und meine Finger durch Hundefell laufen ließ. Durch Fell aus Eichen- und Lehmbraun, als eine Kastanie auf meine Hand fiel. Als mir erdiges Aroma in die Nase stieg.
Als mein Tränenfluss allmählich verebbt.
Mein Fuß betätigt das Pedal des Klaviers. Meine Finger wiederholen Klänge.
Wiederkehrende Klänge – wie die zyklische Bewegung beim Formen eines Schneeballs.
Seine Kälte haftete an meinen eisblauen Wollhandschuhen. An den Schneeflocken, die als Strickmuster darin eingewoben waren. Alpinblaues Licht von Straßenlaternen fiel auf frostgraue Bänke. Bedeckt von Schneemassen und Tannennadeln.
Ich erinnere mich an die tiefen Fußabdrücke im Schnee. Und an den klammen Körper des Schneeballs unter meinen Handschuhen.
Ich lasse die Melodie verhallen. Meine Finger gleiten über die Tasten, nach rechts. Höher. Lassen einen hellen Ton erklingen.
Hell wie das Klacken des weißen Läufers, den ich einst am Schachbrett absetzte. Die Picknickdecke war von demselben Muster gesäumt gewesen wie das Brett. Mit kirschroten und sonnengelben Kacheln. Neben dem Brett ein Picknickkorb aus geflochtener Weide. Mit birnengrünen Weintrauben und Croissants darin. Ein lavendelfarbener Blütenstrauch neigte sich über die Decke.
Ich steckte mir ein Gänseblümchen hinters Ohr, das ich aus der maigrünen Wiese gepflückt hatte. Setzte den dunklen König Schachmatt, während unser gemeinsames Lachen erschallte.
Die Melodie nimmt an Helligkeit zu. Ich merke, wie sich meine Lippen auch jetzt zu einem Lächeln verziehen.
Und begreife:
Ich kann die Blätter im Wald nicht mehr sehen. Doch ich kann den erdigen Duft noch riechen. Ich kann die Rundung des Schneeballs nicht mehr sehen. Doch ich kann seine Kälte noch spüren. Unser Lachen über dem Schachbrett noch hören.
Mein Lächeln wird breiter. Denn auch ohne Augenlicht führen mich die Klänge des Klaviers noch immer durch Farbtöpfe aus Erinnerungen.
»Danke«, hauche ich. Für all die farbigen Augenblicke.
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