Mein Augenblickmensch und winzige Tabletten
Ich liege in der Badewanne und spüre, wie meine Augen sich schließen und eine Träne runterkullert. Einfach so kullert sie meine Wange entlang, einfach so. Ich wische sie mit meiner schweißnassen Hand weg, einfach weg. Doch meine Wange ist immer noch nass. Diesmal nicht von meinen salzigen Tränen, sondern von meinem salzigen Schweiß. Mir fällt ein, dass ich heute vergessen habe, meine Tabletten zu nehmen und ich muss lachen. Das Schmunzeln hat sich so lange aufgestaut und gerade jetzt, als ich realisiere, dass ich mich selbst belüge, muss ich endlich nach so langem Schweigen lachen. Ich habe meine Tabletten nicht vergessen, ich habe sie absichtlich nicht genommen. Ich will wieder fühlen.
Die Erschöpfung breitet sich in meinem Gesicht aus, und doch bin ich so wach wie noch nie. Ich erwehre mich ihr nicht und nehme alles so klar wahr. Ich bewege mich kein bisschen, in der Hoffnung, dass die Zeit stehen bleibt. Ich habe meine Vergangenheit vergessen und denke nicht an die Zukunft. Trotzdem wünsche ich mir, mehr im Jetzt zu leben und dich noch ein letztes Mal küssen zu dürfen. Wenn man sich an etwas gewöhnt und es dann weg ist, merkt man erst, wie sehr man es geliebt hat. Ich habe mich an dich gewöhnt und habe dich geliebt. Ich will noch einen Augenblick, einen Augenblick mit dir. Ich frage mich schon lange, was dieser Augenblick überhaupt ist, und ich bin mir noch immer nicht sicher. Ich habe schon oft in deine Augen geblickt, aber sehe nicht immer das Gleiche. Ich sehe nicht immer das Glitzern in deinen Augen und die winzigen Lachfältchen um deinen Mund herum. Doch sehe ich immer dich. Dich als ganzen Menschen, der manchmal glücklich und manchmal traurig ist, der manchmal naiv lacht und manchmal verantwortungsvoll agiert, der manchmal schweigt und manchmal so laut weint, dass auch mir eine salzige Träne runterkullert. Aber für dich bin ich gerne stark, denn ich will noch unendlich viele, ewige Augenblicke der Zweisamkeit mit dir erleben, auch wenn das nie möglich sein wird. Lass mich träumen von einem Leben das Bedeutung hat. Ein Leben, in dem wir uns noch einmal in unseren Augen verlieren.
Meine Mutter wäre enttäuscht, wenn sie sehen würde, wie ich aus der Badewanne steige, die Fliesen komplett nass. Und ich werfe die volle Schachtel mit all den kleinen Tabletten weg. Doch sie sieht es nicht, und die Tabletten, die mich gut fühlen lassen sollen, gibt es nicht. Ich brauche sie, so wie ich dich, aber ihr seid beide nicht da. Es schmerzt. Von dir und den Tabletten ist nichts mehr übrig, außer die Erinnerungen. Und trotzdem habe ich in meiner Vorstellung beides wahrgenommen, beides gespürt. Die nicht vorhandene Wirkung der Medikamente und deine Präsenz. Dass du in meine Augen blickst, hat mir gefehlt. Mein Augenblickmensch.
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