Mein Engel der Zukunft
Ich dachte immer, dass das Ende der Welt noch Jahrhunderte entfernt währe und ich es wohl nicht erleben würde, aber anscheinend lag ich wohl falsch. Nein, es geschah vor zwei Jahren. Kurz vor meinem dreizehnten Geburtstag marschierte die deutsche Wehrmacht in mein Heimatland ein. Die Leute bejubelten den Führer so, als wäre er der nächste Messias, der uns alle retten würde, als er durch die Straßen zog. Ich frage mich, ob sie das auch getan hätten, wenn sie gewusst hätten, dass ihr Heilsbringer in Wahrheit der Teufel höchstpersönlich war. Ich werde es wohl nie erfahren, denn es ist Vergangenheit, und wie jeder weiß, Vergangenheit kann nicht geändert werden. Das Einzige, was uns bleibt, ist die Zukunft. Doch wie kann ich noch auf die Zukunft hoffen, wenn es scheint, als würde es sie nie geben?
Ich weiß nicht, wie oder warum ich überhaupt Hoffnung haben sollte. Fakt ist, dass es eine Zukunft gibt, doch auf keinen Fall so eine, welche Frau Goldstein sich erhofft hatte. Frau Goldstein war meine Lehrerin, einer der nettesten und gutmütigsten Menschen, denen ich je begegnete. Immer, wenn sie die Klasse betrat, erstrahlte der Raum. Für mich war sie ein Engel auf Erden. Jeden Freitag las sie aus einem ihrer Bücher vor oder sie erzählte uns Geschichten über eine „magische Zukunft“. Ihrer Meinung nach würde das Leben durch Hoffnungen auf eine bessere Welt viel leichter und fröhlicher. Frau Goldstein sprach voller Überzeugung, sodass sogar ich an die Magie der Zukunft glaubte. So war es, bis eines Freitags keine liebenswerte, junge Frau mit langen schwarzen Haaren und braunen Augen, welche vor Lebenslust strahlten, sondern eine grimmige alte Dame bei der Klassentür hereinkam. Ihre blonden Haare waren zu einem strengen Dutt zusammengebunden und man hatte das Gefühl, dass ihre blitzblauen Augen einen durchbohrten, wenn der Blick auf einen fiel. Sie sagte, dass aus bestimmte Gründen Frau Goldstein nicht mehr unterrichten könne und wir Schüler sie nun als Lehrerin hätten. Frau Deutscher, so hieß das alte Weib, war das komplette Gegenteil von Frau Goldstein. Sie erzählte keine Geschichten, brachte uns nicht zum Lachen und träumte mit uns nicht in eine wunderschöne Zukunft. Frau Deutscher war eine kalte und boshafte Frau. Das Einzige, worüber sie mit Liebe sprach, war der „Herr Führer“, dessen Bild wir jeden Stundenbeginn grüßen mussten.
Jeden Tag dachte ich an Frau Goldstein, an ihre Geschichten und unsere „magische Zukunft“. Doch mit jedem Tag, der verging, begann ich mehr daran zu zweifeln. Doch heute war es soweit, aus dem Zweifel ist Gewissheit geworden. Gewissheit, dass diese wunderbare Zukunft nicht eintreten wird, denn mir geht hier unten so langsam die Luft aus. Es ist schrecklich laut, die Menschen flehen um Erbarmen, und immer wieder fallen Bomben vom Himmel. Ich hoffe nur, dass, wenn dieser Brief gefunden wird, die Zukunft so zauberhaft ist wie es mein Engel der Hoffnung mit uns erträumt hat.
Auf Wiedersehen,
ein Kind das in der falschen Zeit aufwuchs.
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