Mein Spiegelstück am Seerosenteich
Es beginnt zu regnen. Die Wassertropfen rinnen mir über die Nase und ich zittere vor Kälte. Ich blicke auf den See hinaus und sehe die Enten ans Ufer schwimmen. Sie scheinen genauso verärgert wie ich.
Letzte Woche schien noch die Sonne und es war heiß. Doch der Herbst brach herein, wie ein Gast, der denkt er sei zu spät. Er reißt die Tür mit voller Wucht auf, nur um zu realisieren, dass noch niemand da ist und noch nichts für seine Ankunft vorbereitet wurde. Doch genauso wenig wie der Besucher gehen kann, kann der Herbst wieder durch die Tür zurücktreten und auf den richtigen Moment warten. Ich wende mich von den Enten ab und gehe zu dem kleinen Steg mit den Seerosen. Die Seerosen sind fast verschwunden, bedeckt von einer Schicht mit goldgelb-roten Blättern. Der See hat sich eine Blätterdecke übergezogen, er verbirgt seine tiefblaue Farbe vor der Welt.
Ich erinnere mich an die Wärme des Sommers. Der See war an windstillen Tagen glänzend und unbewegt, wie ein makelloser Spiegel.
Nicht so wie wir. Wir gleichen von Beginn an einem noch nicht zusammengesetzten Spiegelmosaik. Jeder mit einer einzigartigen Form und einem einzigartigen Bruch. Wir tauschen Bruchstücke aus, schenken sie her, wenn im Moment ein anderes besser passt. Alles in der Hoffnung, dem Spiegel seine eigene Form zu geben. Zu oft verlassen wir uns auf andere und geben die Verantwortung für unseren eigenen, persönlichen Spiegel leichtfertig ab.
Doch was passiert, wenn zu viele Teile hergeschenkt wurden und dadurch zu wenige da sind? Oder sie wegen einer kleinen Ecke nicht zusammenpassen?
Was geschieht in dem Moment, in dem der Spiegel lückenlos zusammengefügt wird und zum ersten Mal eine Reflektion ohne Risse entsteht? Ist das der perfekte Augenblick?
Ich werfe einen Blick in den Teich und erkenne mein verschwommenes Ich. Es ist noch ein weiter Weg, bis mein Spiegelbild eben ist. Mein perfekter Augenblick liegt noch vor mir.
Manche Begegnungen lassen mich erkennen, wo ein Stück seinen Platz hat. Doch schlussendlich liegt es an mir, meinen inneren Spiegel zusammenzufügen.
Ich schaue auf den See und weiß, dass ich ihn im Winter vermissen werde. Die Enten lassen mich nicht aus den Augen und es scheint, als würden sie für dieses Jahr von mir Abschied nehmen. Dieser Sommer am See ist ein Teil meines inneren Spiegels.
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