Mein stiller Passagier
"In zehn Minuten kommt das Taxi! ", grölt einer meiner angetrunkenen Klassenkollegen. Die Mitteilung dringt in mein Ohr, die Nachricht kommt an, doch will nicht akzeptiert werden. Zehn Minuten sind zu lange für jemanden der sich schon gedanklich in der Flucht befindet. Ich will hier weg. NEIN! Ich muss hier weg.
Soll ich laufen, einfach gerade aus, so schnell ich kann. Ich würde ewig nach hause brauchen, aber ich wäre in Bewegung. Mein Herz würde durch die Anstrengung unnormal schnell schlagen und nicht mehr nur durch den Schock. Doch sicherlich ist ein Auto ein effizienteres Fluchtmittel als meine trägen, zitternden Beine. Ein Taxi konnte auf den breiten Straßen sicher mindestens 100 km/h hier fahren. Sicher könnte es das, es musste einfach. Denn ich will nicht mehr hier sein. Nicht in dieser Bar, nicht an dieser Strandpromenade, nicht in diesem Land und nicht in diesen Körper, der sich verdorben wie eine verwelkende Rose anfühlt.
Doch für eine solche Flucht würde nicht mal Lichtgeschwindigkeit reichen. Denn jeglicher Fluchtversuch der im hier und jetzt liegt, kann die Vergangenheit nicht ändern. Nichts kann seine Hände von meinem Körper oder seine Lippen von meinen nehmen. Es passierte zu schnell. Gelehmt vom Schock noch vor wenigen Minuten, jetzt aufgekratzt und unruhig. Auf und ab ein schritt nach dem anderen. Aber die Zeit scheint wie Honig, zähflüssig und langsam zu zerrinnen.
Ich kann ihn fühlen, Fingerspitzen wie Messerstiche auf meinem Körper. Ich würde mich am liebsten aus meiner Haut schälen, die gebrochene Schale zurücklassen und dann wie eine Rackete ins Weltall schießen. Für immer ins weite nichts, weg von diesem Ort. Wo bleibt das verdammte, verräterische Taxi? Es kann doch jetzt nicht mehr lange dauern? !
Hier am Parkplatz richt es nach Abgasen und Erbrochenem, nichts was ein normaler Mensch gerne riecht. Trotzdem atmete ich tief durch meine Nase und versuche durch dieses Scheusal an Gerüchen meine Nasenschleimhäute wegzuätzen. Die gleichen Schleimhäute, die gerade noch vorher den Geruch von Tequila und billigen Männer Perfüm wahrgenommen hatten.
Unbewusst fährt meine Handy in meine Hosentasche und zieht mein Handy hervor. Ich wage es kurz nicht auf das aufleuchtende Display zu schauen. Mir zieht sich der Magen zusammen, als hätte ich eine Krebsdiagnose vor mir auf den kleinen Bildschirm zu erwarten. Hoffendlich ist etwas Zeit vergangen.
Bald weg. Bewegung, Beschleunigung, Verdrängung. Verzweifeltes Ausatmen. Noch acht Minuten bis das Taxi kommt. Noch acht Minuten Terror nur wenige Meter vom Tatort entfernt, dann noch eine ganze Lebenszeit die Erinnerung an sieben Minuten, die sich nicht himmlich, sondern machtlos und entmenschlichend angefühlt haben.
Bilder die ich nicht los werde, Taten die ich nicht ungeschehen machen kann. Egal ob 20, 60 oder 300 km/h das Auto verschaft mir nur eine räumliche Flucht. Wohin mich auch meine Beine oder quietschende Autoreifen tragen, die Erinnerung an heute bleibt mein stiller Passagier.
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