Mein verlorenes Kind
„Ellen, du bist echt mutig.“ Diesen Satz habe ich schon oft von meiner aktuellen Freundesgruppe und Personen, denen ich neu bin und welche ich zum ersten Mal gesehen habe, gehört. Ich glaube nicht, dass das stimmt. Ich kann mich nicht überwinden, zu denken, ich wäre mutig und würde dies jemals werden. Auch wenn ich mich offensiv verhalte. Egal wie energisch ich es versuche.
Auch wenn ich mich nicht als mutig bezeichnen kann, bin ich wenigstens gut im Verschleiern. Die Verschleierung, ein typischer Mechanismus Jugendlicher, um ihre konstante Angst, ihren Schmerz, ihre Unsicherheit vor sich und anderen zu verbergen. Sogar von mir wird diese Methode angewendet, um unbeschadet durch den tristen Alltag vollgepackt mit Schule, toxischen Freundschaften und Liebeskummer zu kommen. Auch wenn ich weiß, dass jeder einzelne meiner Spezies mit dem gleichen Problem zu kämpfen hat, fühle ich mich allein gelassen. Trotzdem lässt mich die Verschleierung von außen glücklich und selbstbewusst aussehen. Aber einen Nachteil gibt es – ich verliere langsam mich selbst, ich habe keine Ahnung mehr von mir und der eigentlich in mir steckenden Person. Die Verschleierung wurde zu lange getragen, sie hat sich an mir festgeklammert wie ein kleines, verloren gegangenes und hilfsbedürftiges Kind. Dieses Kind, die Verschleierung, ich will sie nicht mehr tragen. Ich möchte sie ablegen können, mich meinen wahren, mich schätzenden Freunden zeigen und öffnen. Und mich selbst wiederfinden.
Das verlorene Kind hat mich viele Male in das Direktorat meiner Schule, in meine Schulstunden oder vor fremde, angsteinflößende Leute gebracht, um mich anzuregen, zu fragen. Um um Erlaubnis, um Erklärung oder um so viele andere mich vermeintlich weiterbringende Dinge zu erfahren. Mein verlorenes Kind hat mich gefördert und teilweise auch positiv zur Bildung meiner abgehärteten, soliden Persönlichkeit beigetragen. Es hat mich motiviert, Fähigkeiten hervorzurufen, dessen Existenz ich bezweifelt habe und mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Aber mein verlorenes Kind hat kleine Fehler begangen.
„Ellen, du bist so mutig.“ Diese Phrase ist in verschiedene Richtungen deutbar. Einerseits imponiere ich mit meiner Courage und dem Willen, auf Leute zuzugehen, sie nicht wegzuschieben und in unangenehmen Situationen richtig zu reagieren. Das alles habe ich meiner Rationalität und Disziplin zu verdanken. Andererseits führt das verlorene Kind einen auch zu brenzligen Gesprächen unter neuen Jugendlichen, mit neuen Leuten, bringt einen in eine noch unerforschte Gegend in so vielen Hinsichten. Das macht mir Angst. Auch wenn ich versuche, die Verurteilung auszublenden und durchgehend selbstbewusst zu wirken, leide ich. Ich leide unter der Last des verlorenen Kindes, der Gesellschaft, die mir aufgebunden wurde. Am liebsten würde ich in einigen Situationen im Erdboden versinken, und mein verlorenes Kind muss mit. Ich habe keine Lust mehr, Mut zu imitieren.
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