Meine Supercraft
Der Wecker klingelte. Ich öffnete verschlafen die Augen und tastete nach ihm. Ich drückte die Schlummertaste und hievte mich aus dem Bett. Ein Morgen wie jeder andere, nur fühlte ich mich, als wäre man dreimal über mich gefahren. Im Bad hielt ich mein Gesicht unter den Wasserhahn. Im Spiegel sah ich einen 14-Jährigen mit verwuschelten Haaren. Noch halb benommen begann ich, mir die Zähne zu putzen. Dabei stieß ich versehentlich die Zahnpastatube vom Waschbecken. Sie fiel – und schwebte plötzlich in der Luft. Ich schüttelte den Kopf. Sekunden später fiel sie weiter und platzte auf dem Boden. Ungläubig wischte ich die Paste auf, zog mich an, nahm meinen Rucksack, verabschiedete mich von meinen Eltern und lief zur Schule.
Auf dem Weg fiel mir eine Taube auf, die wie vereist auf der Straße stand. Alles andere schien normal. Doch irgendetwas fühlte sich merkwürdig an. In der Schule begrüßte mich mein bester Freund, wir gingen zusammen in die Klasse. Der Tag verlief wie immer, und schon bald hatte ich das merkwürdige Erlebnis des Morgens vergessen.
Auf dem Heimweg hatte sich das Wetter verschlechtert. Es begann zu tröpfeln, bald darauf prasselten dicke Regentropfen. „Ach komm schon“, murmelte ich und fing an zu rennen. Doch plötzlich spürte ich keinen Regen mehr auf meinem Kopf. Verwundert schaute ich mich um: Überall hingen tausende Wassertröpfchen in der Luft, unbeweglich. Ich streckte die Hand aus und berührte einen Tropfen – er platzte wie in Zeitlupe. Weiter vorn stand ein Mann an der Bushaltestelle, starr wie versteinert. Vögel schwebten über mir, reglos in der Luft. Ich fragte mich, ob ich träumte. Aber Träume waren nie so realistisch – und Menschen fragten darin nicht, ob sie träumten. Vielleicht war ich verrückt geworden? Nein, das konnte ich ausschließen – dann hätte ich eine unglaublich lebhafte Vorstellungskraft. Ich berührte noch einen Tropfen, er platzte wieder. Plötzlich rauschte der Regen normal, und die Welt war wie zuvor. Ich war weder verängstigt noch verwirrt; ich wollte verstehen.
Es fühlte sich an, als könnte ich die Zeit anhalten – aber nicht, wann. Zuhause öffnete ich die Tür, meine Mutter begrüßte mich. „Wie war dein Tag?“, fragte sie. Ich überlegte kurz und antwortete: „Wie immer“, und verschwand in meinem Zimmer. In Filmen wurden Kräfte oft durch Emotionen ausgelöst. Aber ich war weder wütend, traurig noch glücklich, als alles geschah. Ich nahm einen Stift, warf ihn in die Luft, konzentrierte mich – nichts passierte. Mehrere Versuche scheiterten. Dann kam mir ein Gedanke: Nicht die Zeit stand still, ich war einfach so schnell, dass sich alles andere wie angehalten anfühlte. Die Tropfen, die Taube, die Tube – sie hatten sich minimal bewegt.
Ich warf den Stift erneut hoch, konzentrierte mich – und er fiel unglaublich langsam. Ich ging in die Küche: Meine Mutter kochte Nudeln, wirkte versteinert, bewegte sich aber. Wieder in meinem Zimmer fing ich den Stift auf, der nun normal fiel. Und so entdeckte ich meine Superkraft.
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