Mit der Zeit gehen
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrichen ist. Ich weiß nicht, was Zeit ist.
Die Uhr auf meinem Handgelenk ist nur ein lästiges Extra, ihr Band rutscht ständig hin und her und reizt meine Haut. Dabei werfe ich nicht einmal einen Blick auf sie. Was sie mir sagen will, interessiert mich nicht.
Die Uhr tickt aber. Mit jedem Atemzug schnürt sich mein Hals ein wenig enger zu und mit einer Hand halte ich mich an der Couchlehne fest, weil ich sonst vielleicht hinunterfallen würde. Aufgeregt wippe ich mit einem Bein auf und ab, taktlos, mal schneller, mal langsamer und warte auf alles, was noch kommt. In der Luft liegen Spannung und Entschlossenheit, sogar ein wenig Angst, die jedoch so zum Greifen nah ist, dass ich sie noch im selben Augenblick zu ersticken versuche. Rastlos wandern meine Augen durch den Raum und mein Blick verweilt auf den gestapelten Koffern, die wenige Meter vor meinen Füßen liegen. Ich sollte vielleicht auch umziehen, kommt mir in den Sinn.
Eine gefühlte Ewigkeit lang zwinge ich mich schon, hier zu sitzen. Schon oft habe ich auf diesen Moment hingestrebt und noch öfter habe ich mir diese Szenen ausgemalt, aber niemals hätte ich mir nur im Entferntesten ausmalen können, wie tief ich mein Herz tatsächlich sinken würde. Ich höre Schritte, einen Schlüssel, der hastig im Schlüsselloch gedreht wird und eine Tür, die sich öffnet und schließt. Für einen kurzen Augenblick will ich aufspringen und mein ganzes Vorhaben über Bord werfen. Schnell jegliche Spuren verwischen. Aber ehe ich diesen Gedanken überhaupt zu Ende denken kann, ist es zu spät. Er sieht schön aus, wie er da im Flur steht und mich verwundert anblickt. Wäre ich dumm genug, könnte ich mich noch einmal verlieben. Aber das bin ich nicht, nicht mehr, viel mehr bin ich endlich aufgewacht. Er muss spüren, dass etwas anders ist, denn er tritt nur langsam zu mir ins Licht vor und durchbricht als erster die Stille. Wie lange ich hier schon sitze, fragt er mich. Eine Weile, sage ich. Gewartet habe ich länger.
Ungläubig starrt er auf die Koffer, in die ich tagsüber sorgfältig seine Sachen geschmissen habe und ich sehe in seinen Augen, wie er langsam beginnt, zu verstehen. Er ringt nach Luft, ich kann endlich wieder atmen. Ich brauche nicht viel zu erklären, so spürt man doch meistens, wann etwas vorbei ist.
Ich habe fast Mitleid mit ihm, doch wohin hat mich das je gebracht? Es bleibt Leid.
Nur Leid.
Mein Geduldsfaden, der sich wie ein rotes Seidenband um mein Herz gesponnen hat, wird dünner und reißt letztendlich.
Es sei doch schon so lange her, meint er. Doch er irrt sich. Denn es ist mir egal, wie viel Zeit verstrichen ist. Ich weiß nicht, was Zeit ist.
Mein Blick bleibt auf meiner Armbanduhr hängen, die sich um mein Handgelenk schmiegt und eigentlich nur ein lästiges Extra ist, das ich schon längst hätte loswerden sollen.
Wieder wird es still im Raum und selbst diese Stille wird mir irgendwann zu laut. Aus diesem Grund sage ich nichts mehr, nur, dass er gehen soll.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:




















Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX