Mohnblumen im Schnee
Mein Kopf fühlt sich schwer an, denn obwohl ich weiß, dass es die Klauen sind, die meine Wahrheit sprechen sollten, habe ich trotzdem meine Handschuhe ausgezogen. Lasse die dunklen Blüten in bleichen Schnee fallen, zerbreche die Regel eines maskierten Mannes mit voller Absicht und dem Rest der Kraft, der mir noch bleibt. Reiße mich von beiden Seiten los und wage es, mich zwischen die Fronten zu stellen. Ich möchte nicht den Menschen, der mich zu dem gemacht hat, was ich heute bin, mit falschen Händen anfassen. Sie sollen denken, ich sei schwach, sie sollen mich verschmähen, sie sollen mich steinigen, und doch werde ich meine bloßen, zitternden Finger zeigen. Denn auch wenn meine Empathie, mein Mitgefühl und meine Menschlichkeit hinter dicke Ketten aus Distanz und Ignoranz gesperrt werden, so lasse ich sie lieber in mein Fleisch bohren, als dass ich ihn mit Latex berühre. Lieber echter Schnee als falsches Gras, egal, wie real die Mohnblumen sind. Vielleicht bin ich zu schwach, um mich vollkommen einer Seite hinzugeben, vielleicht hätte ich mich nie auf diese Mauer wagen sollen. Nur wie hätte ich je wissen sollen, dass es eines Tages er sein würde, der unter meinem Messer liegt? Erst wenn Welten aufeinander prallen, bereut man. Und wenn Grenzen ineinander übergehen, verliert man alles, was man hat.
Wir schicken Impulse durch ihn durch, kleine Funken, die dieses Feuer, das in ihm inne wohnt, wieder aufwecken soll. In einem stetigen Rhythmus versuchen wir, wieder in diese schönen Augen blicken zu können. Ich bemerke nicht, wie meine Wangen nass sind, wie dunkle Tropfen auf meinem Kittel liegen. Meine Hände sind klebrig und warm mit vergossenem Leben und ich halte mich an ihm fest, in der Hoffnung, er würde durch die Berührung nicht verschwinden. Unsere Stimmen werden lauter, immer wieder senden wir die Blitze durch den Körper. Ich realisiere nicht, wie die Zeit vergeht. Sekunden, Minuten, Stunden ziehen an mir vorbei wie die Lichter der Laternen, wenn man nachts an ihnen vorbei fährt. Man ist sich ihrer Existenz bewusst, doch fühlt sich diese nur wie ein kleiner Hauch an den Haarspitzen an, unscheinbar, unbemerkt und vielleicht auch ungewollt. Ich lasse ihn nicht los, nackte Finger finden ihren Weg an kalte Wangen und als die grüne Linie gerade wird, denke ich daran, wie jeder Mensch aus Sternenstaub besteht. Irgendwo im Hintergrund piepst es laut und hoch, aber ich höre nur wie Sternschnuppen vom Nachthimmel fallen und Kometen die Mauer zerbrechen, bis kleine Steine wie Glassplitter Mohnblumen in den Schnee tropfen lassen. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn ich die Handschuhe doch an meinen Händen getragen hätte. Vielleicht können Mohnblumen doch nicht im Schnee überleben.
Als ich später wieder am Main entlang spaziere und der Himmel mit mir weint, springt jemand von der Brücke.
Heilig und reich werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren.
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