Monat 84
Die Tatsache, dass ich dazu tendierte, Fakten so zu verdrehen, dass sie mich besser dastehen ließen, ist unabhängig davon, dass ich im Oktober 1995 eine kaputte Sanduhr gekauft habe. Es handelt sich dabei nämlich um einen Kauf, den ich mit einem zerknitterten Kassazettel konnte, falls mich jemand darum gebeten haben sollte. Das Wissen, dass er in meiner Geldbörse, hinter einer zerbrochenen Mitgliedskarte eines Discounters steckte, gab mir lange Zeit ein merkwürdiges Gefühl von Sicherheit.
Die Bodendielen knarzten unter mir, als ich mich auf sie setzte und den Kopf schwer ausatmend gegen die angegilbte Wand lehnte.
"Unglücklicher Nachmieter eines Kettenrauchers", murmelte ich vor mich hin und steckte mir eine Zigarette in den Mund. Der Rauch zirkulierte durch meine Lungenflügel und hinterließ eine wohltuende Ruhe in mir. Ich ließ fand mich umschlossen vom Nichts.
"Findest du es nicht etwas armselig hier jeden Abend zu sitzen? ", ertönte eine mir bekannte Stimme und ich konnte nicht anders als belustigt zu lächeln.
Der Spieler stand wie immer an demselben Fleck: an der mir gegenüberliegenden Wand, direkt neben dem kleinen Tischlein, auf dem ich die Sanduhr von 1995 positioniert hatte. Besonders charakteristisch sprang mir sein Schnurrbart empor, der durch eine tiefe Narbe zweigeteilt worden war.
"Langweilt es dich nicht, mir jeden Monat dasselbe zu sagen? ", entgegnete ich und drückte den Zigarettenstümmel am Boden aus.
Der Spieler ignorierte meine Frage und begann in Kreisen um den rundlichen Tisch herum zu gehen. Bei jedem seiner Schritte ertönte ein lauter, dumpfer Aufschlag, der mir in den Ohren dröhnte.
"Erzähl mir nochmal, warum du diese Uhr von mir gekauft hast", forderte er mich auf und wechselte die Richtung, in der er seine Runden zog.
Ich dachte darüber nach wieder nach der Schachtel zu greifen, doch ich wusste, dass es ihm nicht gefalle würde. Stattdessen rieb ich mir die Schläfen und versuchte meine Gedanken zu sammeln.
"Ich war im 18. Bezirk, es war Herbst" fing ich an und beobachtete die Sanduhr, die ich wie immer plötzlich sehr genau wahrnehmen konnte. Der Spieler griff nach ihr, drehte sie um und die Körner begonnen unaufhaltsam in den Abgrund zu fallen.
"Ich habe den Antiquitätenladen durch Zufall gefunden und war nur hineingegangen um mich vom Regen zu retten. "
"Das ist nicht wonach ich gefragt habe. Warum hast du diese Uhr von mir gekauft? "
Ich spürte wie mein Herz begann wie wild in meiner Brust zu pochen. Da war eine Barriere in mir, die ich eigenhändig aufgebaut hatte.
"Du kennst die Antwort doch sowieso schon. "
" Aber kennst du sie auch? ", fragte er sichtlich verärgert und griff nach der Fassung um abzuschließen. "Genug. "
Ehe der dumpfe Aufschlag ertönte, verschloss ich meine Augen von dem Geschehen und fand mich wieder im anfänglichen Szenario. Alles war so, wie ich es bei meiner Heimkehr vorgefunden hatte, bis auf den Stümmel, der nun rechts an meiner Seite lag.
Zeit reichte mir nicht für Antworten.
Es war Monat 84 und Monat 85 wartete.
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