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Mordsmutvon Amelie Frikell

Klinge.

Klingeln.

Klingeling-e.

 

Er ruft an. Ich geh nicht ran. Bin nicht erreichbar. Meine Hand ist besetzt. Meine Brust komprimiert. Ich drücke Luft in meine Lungen. Meine Hand zittert. Das Messer wackelt. Im stillen Haus widerhallt die Stimme meines Freundes auf dem Anrufbeantworter. Das brennende Salz auf meiner aufgebissenen Lippe überrascht. Irgendetwas passt nicht. Es passt nicht, dass ich anderes als die kalte Schneide des Messers in meinem Körper spüre. Der Impuls raubt mir den Atem. Alle Luft - raus. Ich stürze zum Waschbecken, tauche den Kopf unter und spüre, wie die Welle über mir hereinbricht. Nur, um Sekundenbruchteile später nach Luft japsend wieder aufzutauchen. Tränen imitierend rinnen große Tropfen über meine Wangen und hinterlassen dunkle Flecken auf dem hellen Parkettboden. Fremdgesteuert renne ich zum Kühlschrank und reiße mit voller Wucht die Kühlschranktür aus ihren Angeln, welche beim Aufprall auf den schönen Parkettboden mehr als nur dunkle Flecken hinterlässt und mich nur äußerst knapp verfehlt. Ich hebe den herausgefallenen Packen Butter vom Fußboden auf, wickele hektisch das Papier ab und stopfe mir das ganze Fett auf einmal in den Mund. Ungesalzen. Den Würgereiz unterdrückend schlüpfe ich in meine Ballerinas und renne in die kalte Herbstluft.

Als ob die Bahnhofsstraße nie da gewesen wäre, entsteht sie unter meinen Füßen. Erst, als ich mich auf einen Platz in Fahrtrichtung fallen lasse, komme ich wieder zu mir. Ich habe nicht gestempelt. Panisch scanne ich die leere S-Bahn nach Kontrolleuren ab und halte anschließend meinen Blick angestrengt auf den Boden gerichtet, das Messer krampfhaft unter meinem Blazer umklammert. Nun sitze ich hier also. Klatschnass, leichenblass, beschämt. Mit einem Messer. Wenn ein normaler Schwarzfahrer sechzig Euro zahlen musste, was müsste ich für meinen Auftritt wohl auf den Tisch legen?

Als wir uns der Stadt nähern, füllt sich die S-Bahn. Ich bemerke die angewiderten Blicke der Menschen. Es entgeht mir nicht, dass der Platz neben mir frei bleibt, während die Leute sich die Beine in den Bauch stehen. Das Kindergartenkind stupst seine Mutter an, die sich wegdreht. Der große Bruder im Spider-Man Kostüm zeigt mit dem Finger auf mich. Selbst die Frau mit der Yogamatte, kann ihren Blick nicht abwenden. Sie taxiert mich, ich taxiere den Kotzfleck auf dem Boden. Und warte.

Bis ich aussteige. Der kalte Wind bremst mich. In meinen klammen Klamotten gibt er mir das Gefühl, zu Eis zu erstarren. Alles in mir will wegrennen, doch die Menschen am Bahnhof stehen dicht gedrängt, und ihre Schatten vermengen sich zu einer undurchdringbaren Mauer. Und dieser Wind. Erst als ich zum Stillstand abbremsen muss, identifiziere ich das klingelnde Telefon als das meine. Mama ruft an. Wahrscheinlich ist sie nachhause gekommen.

Ich gehe selten an mein Telefon. Angespannte warte ich, bis das Klingeln in meinen Ohren verstummt. Das Messer fest umklammert drücke ich mich durch die feierabendlichen Menschenmassen. Endlich erreiche ich die rettende Treppe und kann das Getümmel hinter mir lassen. Atemlos komme ich am oberen Treppenabsatz an. Er ist schon da.

Mein Blick gesenkt für Stunden, ist mein Nacken ganz steif geworden. Ich rieche ihn, bevor ich ihn sehe, und muss die aufstoßende Butter hinunterdrücken. Guten Tag gnädige Frau, sagt der Obdachlose, der seiner Sprache nach schon bessere Zeiten gesehen hat, ohne jegliche Spur von Hohn. Ich tue so, als forderten die unregelmäßigen Linien des Kopfsteinpflasters meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit und haste schleunigst weiter, den Blick auf den Boden gerichtet. Mein Nacken schmerzt.

Steh doch auf, höre ich hinter mir jemanden rufen. Es ist das Kindergartenkind. Spring, ruft Spider-Man. Und in diesem Moment trumpft die Angst vor einer schlechteren Welt. Langsam drehe ich mich um, die Hände zu Fäusten geballt. Der Druck wird unerträglich, und tief in meiner Faust findet sich die Klinge wieder. Wirklich, ich wollte das nicht. Eigentlich nicht. Was ich wollte war Kontakt mit den Menschen dieser schlechten Welt aufzunehmen. Kämpfen wollte ich, aus Angst vor einer noch viel schlechteren Welt mit noch viel schlechteren Menschen. Kämpfen, mit Fäusten. Auf Augenhöhe. Eigentlich. Wirklich? Hocherhobenen Hauptes schreite ich zurück zum Treppenabsatz und zum ersten Mal in meinem Leben richte ich meinen Blick höher als nur bis zum Stumpf. Über die Oberkante des abgewetzten Schildes gleitet mein Blick über den dreckigen V-Ausschnitt seines T-Shirts, seinen runzligen Hals und seinen eisgrauen Bart bis zu der Spiegelung des Lichtes auf seiner Glatze und wieder zurück zu seinen trüben Kaffeeaugen.

„Hallo“, sage ich. „Hallo gnädige Frau“, erwidert der Mann. Ich weiß nicht, wie das Gespräch weitergehen soll. Alle meine Energie muss ich dafür aufbringen, dem Mann in die Augen zu blicken. Die Kinder sind verschwunden. „Ich habe leider kein Geld dabei“, überkommt es mich plötzlich. „Das macht nichts“, sagt der Mann und strahlt mich mit blitzenden Augen an. „Bitte springen sie nicht.“ Ich bin nicht besonders gut im Small-Talk. „Niemals“, füge ich sicherheitshalber noch hinzu und blicke ihm dabei noch viel fester in die Augen. Der alte Mann nickt. Um uns herum bewegt sich der Strom der Münchner Pendler einfach weiter, keiner scheint von uns Notiz zu nehmen. „Du auch nicht“, fügt der Mann hinzu. Ich nicke ebenfalls. „Du auch nicht?“, hakt er nach. „Ich auch nicht“, bekräftige ich erneut. Als ich mich verabschiede, fühle ich mich seltsam erleichtert und erschöpft. Der alte Mann winkt in die falsche Richtung, als ich gehe. Die Frau mit gesenktem Blick bemerkt seinen Gruß nicht. Ich winke trotzdem zurück.

Erst als ich die Klingel betätige, fällt mir ein, dass ich ihn gar nicht nach seinem Namen gefragt habe. Und erst als ich das Treppenhaus erklimme, überkommt es mich, dass sie vielleicht gar nicht da ist. Vor der Tür verlässt mich die Kraft. Ich gleite langsam an der Wand nach unten und starre auf den Marmorboden. Nein. Ich kann nicht mehr. Meine Hände hinterlassen klare rote Abdrücke auf den schwarz-weißen Schlieren und mit größter Mühe gelingt es mir, mich auf meine Füße zu drücken, die in den feinen Ballerinas mehr als deplatziert wirken und doch in dieser Sekunde ihren Zweck erfüllen. Ein bisschen wie ich. Ja. Ich betätige den Türsummer, drücke die Tür auf, trete ein und bleibe mitten im Raum stehen. Fragend lächelt mich die Sprechstundenhilfe an. „Ich habe es geschafft“, murmele ich mehr zu mir selbst als zu irgendjemand anders und breche in Tränen aus. Das Messer gleitet aus meiner Hand und fällt mit einem dumpfen Klirren nicht auf meine Füße, sondern auf den Boden. Ich ziehe meine Hand unter der blutverschmierten Bluse hervor und versuche mir die Haare aus dem Gesicht zu streichen. Die Sprechstundenhilfe lächelt nun nicht mehr fragend, sondern schreit zaghaft um Hilfe. Die Menschen im Wartezimmer blicken auf den Boden oder halten sich die Augen zu. Sie sind auch wie ich hier, weil sie einen steifen Hals haben. Die eine in dem Minirock vielleicht auch, weil ihr hysterisches Geschrei andere Menschen zum Morden bringen könnte. Von dem Geschrei angelockt strömen Menschen in weißen Kitteln aus den verschiedenen Zimmern. Fremde Menschen. Sie versuchen, mit mir Kontakt aufzunehmen, doch ich kann nicht. Zurzeit leider nicht erreichbar, Sie können nach dem Signalton…

Endlich erblicke ich sie. Als sie mich erblickt, beschleunigt sie ihren Schritt. Sie löst die Situation auf, nimmt mich am Arm, nickt einem Kollegen mit Verbandszeug zu, bugsiert uns drei in ein Zimmer und schließt die Tür. Während der Mann mich verarztet, schweige ich. Abwartend schaut sie mich an.

Es ist nicht so wie sie denken, beginne ich hilflos, mit Blick auf meine Hand. Ich habe es geschafft. Ich habe es nicht getan, verkünde ich stolz und lächele. Und dann erzähle ich ihr die Geschichte, von dem Moment in der Küche, als ich die Butter in mich reinstopfte und mein Mut sich zeigte. Der Moment, in dem die Angst davor, weiter ein Leben voller Selbstverletzung zu führen, größer wurde als die Angst, meine Überlebensstrategie aufzugeben und mich in die Ungewissheit zu stürzen. Ich war heute mutig. Einmal, indem ich etwas nicht tat. Mich nicht zu schneiden war mutig. Und das zweite Mal, indem ich etwas tat. Zurückzugehen und dem blinden Mann in die Augen zu schauen, war mutig. Die Tür öffnet sich, und als mein Freund den Raum betritt, schaue ich ihm in die Augen. Ich habe dich lieb, mutige mutmaßliche Meuchelmörderin, sagen sie, und erstmalig erreicht die Nachricht ihre Adressatin. Ich bin heute schwarz gefahren, murmele ich. Und komme mir plötzlich verdammt mutig vor.

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