Morgen
Mit einem Ruck ziehe ich den Vorhang zu. Ich muss schlafen gehen. Ich kann nicht die ganze Nacht über am Fenster sitzen und hinaus in die stille Dunkelheit starren, wenn es doch in meinem Kopf so laut ist. Langsam stehe ich auf. Meine Finger krallen sich am Schreibtisch fest, um Halt zu finden. Eine Weile stütze ich mich noch auf ihm ab, dann will ich weggehen. Doch meine tastenden Hände finden die Buchstaben, die ich ins Holz geritzt habe. Wann ich sie eingeritzt habe, weiß ich nicht mehr, sie zieren schon ewig das Holz. Mein Zimmer ist dunkel, aber ich brauche meine Augen ohnehin nicht, um die Schrift zu lesen.
Meine Finger fahren das M entlang, dann das O und das R. Beim G schlüpft ein Holzsplitter unter meine Haut. Der stumpfe Schlüssel, mit dem ich die Buchstaben eingraviert habe, gehört zu meiner Zimmertür. Der Splitter tut ein wenig weh, aber ich höre nicht auf, die Linien im Holz entlang zu fahren, weiter über das E, bis ich beim N angelangt bin.
Morgen.
Vorsichtig koste ich das Wort. Es schmeckt verheißungsvoll, und das aufregende Geheimnis, das es verspricht, kribbelt ein wenig auf der Zunge. Es ist ein mächtiges Wort, süß, mit einem zartbitteren Beigeschmack nach Angst vor Enttäuschung.
Ich schalte meine Lampe ein und betrachte die kleine Wunde, die das Holz in meiner Haut hinterlassen hat, eingehend im Lichtkegel. Wenn man die Fingerkuppe zusammendrückt, quillt ein wenig Blut heraus. Fasziniert sehe ich zu, wie der rote Tropfen meine Haut hinunterrinnt. Mit meinen Fingernägeln versuche ich, den Holzschiefer herauszuziehen, doch er steckt zu tief in meinem Fleisch und die Lampe spendet nicht genug Licht. Bestimmt schalte ich sie ab. Ich sollte schlafen gehen. Doch ich stehe im schwarzen Zimmer und kann mich nicht dazu überreden, ins Bett zu gehen.
Morgen.
Ich halte mich gern an diesem Wort fest. Wenn meine Finger nicht den Schreibtisch unter sich spüren, krallen sich meine Gedanken daran fest. Ob man davon auch Splitter bekommt, weiß ich nicht.
Schnell und leise, fast wie eine Verbrecherin, husche ich ein letztes Mal zum Fenster und hebe den Vorhang ein kleines Stück hoch, gerade so viel, dass ich hindurchblicken kann. Ertappt lasse ich den Stoff wieder fallen, als mich nur die Nacht anstarrt, die inzwischen lauter geworden ist. Diesmal tragen meine Füße mich wirklich ins Bett, so flink, wie sie mich davor zum Fenster gebracht haben.
Manchmal, wenn die Nacht besonders laut ist, frage ich mich, wie lange ein Mensch warten kann. Doch dann sage ich mir, dass ich mir diese Frage nicht stellen muss. Schließlich hat mein Warten morgen ein Ende.
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