Morgen könnte anders sein
Einst, vor gar nicht allzu langer Zeit, lebte ein Mann. Dieser Mann, trug sein braunes Haar stehts nach hinten gekämmt, auf der rechten Hand eine goldene Uhr. Jeden Morgen, wenn der schrille Ton eines alten Weckers ihn um Punkt sechs Uhr weckte, begann der Tag des Mannes. Wenn er dann wach war und er sich die Zähne genau zwei Minuten monoton von links nach rechts geputzt hatte, trank er einen viel zu heißen Kaffee. Jeden Morgen ärgerte sich er über den Kaffee, der viel zu heiß war, und die halbleere Tasse blieb stehts am Küchentisch stehen. Wenn die Küchenuhr acht Uhr schlug, hatte er es eilig. Mit der Aktentasche unter dem rechten Arm und dem sich noch nicht an seinem Platz befindlichen Schuh für den linken Fuß in der linken Hand, hetzte der Mann in den Flur vor seiner Wohnung. Flott ging er dann immer in ein grau gestrichenes Bürogebäude. Wie immer wurde er vom Chef mit einem kurzen Nicken begrüßt, bevor er sich an seinen Tisch setzte und mit der alltäglichen Arbeit begann. Ein kurzer Blick auf die Uhr, es war neun. Neun Uhr war gut, er war pünktlich, und Pünktlichkeit war des Mannes höchste Devise. Der Mann hatte keine Kinder und nicht besonders viele Freunde. Er hatte nur eine Mutter, die er immer mittags in der Pause traf. Üblicherweise erzählte sie ihm den neuesten Tratsch, und meist von einem Nachbarn, der sich wieder einmal den Rücken verrenkt hatte. Der Mann selbst hatte nie viel zu berichten. Jeder Morgen begann um sechs Uhr, jeder Abend wurde mit einem Schluck aus einer Flasche Rum beendet. Der Mann musste auf der Arbeit lange vor dem Bildschirm sitzen. Gegen vierzehn Uhr starrte der Mann stehts in die rechte Ecke des Computers. Es war bereits vierzehn Uhr, und er nahm sich wieder die Aktentasche unter den rechten Arm und machte sich auf den Weg zum Café, um seine Mutter zu treffen. Er trat ein und ging in die hinterste Ecke, dort war das Licht angenehm gedämmt. Ungeduldig schaute er auf die Uhr, die Mutter war immer um zehn nach zwei da. Es war fünfzehn nach zwei. Es wurde zwanzig nach zwei. Die Mutter war nicht da. Als es bereits fünfzehn Uhr wurde, trat ein hochgewachsener Mann mit schwarzem Mantel ins Café. Auch dieser Mann war sonst nie da. Und er kam auf den Mann mit der goldenen Uhr und den braunen nach hinten gekämmten Haaren zu und setzte sich direkt vor ihm nieder. Nach einem kurzen Gespräch zwischen den beiden Männern stand der eine, der eben gekommen war, wieder auf. Er drückte noch einmal sein Beileid aus und verließ das Café. Der andere Mann verpasste an diesem Tag zum ersten Mal den abendlichen Schluck Rum. Am nächsten Tag stand der Mann pünktlich um sechs Uhr auf, nachdem der alte Wecker geklingelt hatte. Er putzte sich die Zähne zwei Minuten von links nach rechts. Dann ging er in die Küche und griff nach einer bunten Tasse und trank einen angenehm warmen Tee.
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