Morgendämmerung
Ich sitze im Zug und denke über mich nach. Wenn ich zurück auf mein Leben blicke, sehe ich ein kleines Mädchen im Kindergarten, wie es sich in seiner Einsamkeit das Lesen beibringt. Ich sehe es in der neuen Schule abseits der anderen stehen, das von Sommersprossen verzierte Näschen zittern. Die Kleine wurde noch nie von den anderen ernst genommen. Auch als sie ins Gymnasium kam, war sie die Jüngste, eine „halbe Portion“. Sie wurde wegen ihrer Haare gehänselt. Als sich dann ihre Eltern immer öfter stritten und ihr Vater auszog, sah sie keinen Sinn mehr in ihrem kläglichen Dasein in dieser trostlosen und eiskalten Welt. Es war leer um sie herum.
Doch da war dieser eine Tag, der von Minute auf Minute alles veränderte. Meine Mutter beschloss wegzuziehen. Weg von der alten Schule, weg von den Menschen, die mir das Leben schwer machten, weg von den bedrückenden Erinnerungen, aber hinein in ein neues Leben. Wir stürzten uns kopfüber in eine neue Zukunft, die aus der grauen Leere heraus Gestalt annimmt.
Ich sitze im Zug und denke über mich nach. Es gibt jetzt so viele Möglichkeiten. Ein ganzes Leben steht offen vor mir. Wie es wohl werden wird? Niemand kennt mich hier, ich kenne niemanden hier, es wird ein kompletter Neuanfang. Ob ich Freunde finden werde? Aber ging ich jemals in meinem Leben wohin, ohne anzuecken? Hatte ich jemals Freundinnen oder sogar einen Freund, die zu mir standen, mit mir durch dick und dünn gingen, egal was passierte? Nein. Und so wird es wieder sein. Jede Chance, die mir das Leben gab, habe ich verbaut. Alle Hoffnung ist umsonst. Vielleicht wäre es einfach das Beste, wenn …
Halt. Keinen Gedanken weiter. Diese Person bin nicht ich. Ich bin nicht Ich. Ich habe ein neues Ich. Es scheint mir, als würden zwischen dem Zeitpunkt, als ich in den Zug stieg, und dem Jetzt tausend Welten liegen.
Der Zug wird langsamer und hält schließlich an. Über mein Gesicht huscht ein Lächeln, ich springe auf und renne hinaus ins Freie. Meine Entscheidung ist getroffen. Ich lasse alle dumpfen Erinnerungen bei meinem alten Ich, welches ich im Zug zurückgelassen habe. Ohne einen weiteren Gedanken an diese armselige Kreatur zu verschwenden, drehe ich mich um und sehe die Sonne vor mir aufgehen.
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