Märchen und Traumvon Fanny Koelbl
Und Elsa begann: „Einmal, vor langer Zeit, als das Träumen und Wünschen noch geholfen hat, lebte ein junges Mädchen in einem Land aus Eis und Schnee. Das ganze Jahr über herrschte dort stiller, scharfer Frost, und das Mädchen bekam nichts anderes zu Gesicht als die kahlen Äste der früher so reichen Obstbäume und die zu Eis erstarrte Oberfläche der bis auf den Grund zugefrorenen Bäche. Nur manchmal, an besonders schönen Tagen, lugte die Sonne hinter den trüben Wolken hervor, um sie daran zu erinnern, was einmal gewesen war.
„Wieso erzählst du mir diese Geschichte?“, wollte Luise wissen und zog sich die Bettdecke bis über ihr Kinn, „Du weißt doch, dass ich solche Angst habe, allein zu sein.“ Luises ältere Schwester Elsa nickte und antwortete dann langsam und sehr vorsichtig. Vorsichtig, weil sie sich fürchtete, durch ein falsches Wort eine Flut von Tränen auszulösen, die sich schlussendlich nicht nur über Luises Wangen, sondern auch über Elsas Herz ergießen würde. „Ich kann nichts tun, um das Geschehene zu ändern, aber ich kann dir etwas erzählen. Eine einfache Geschichte.“ Luise schloss die Augen und Elsa fuhr fort.
Das junge Mädchen war das Herz der Menschen in dem Land, sie war fröhlich, offen und empfing jeden mit einem breiten Lächeln und strahlenden Augen. Das war so gewesen, als sich die Äste der Bäume noch unter dem Gewicht ihrer reifen Früchte gebogen hatten und die wärmende Sonne das Land in Geborgenheit gehüllt hatte. Seitdem hatte sich viel verändert. Und wie konnte sie noch das Herz der anderen sein, wenn sich um ihr eigenes wilde Rosen gelegt hatten. Deren Dornen stachen jeden, der versuchte ihr nahe zu kommen und sie verletzten auch sie selbst.
Wenn sie schlief, wenn sie ihre Augen vor der äußeren Welt schloss, dann sah sie die innere Welt ihrer Gedanken, die sie tagsüber so gut zu verdrängen wusste. Und es war immer derselbe Traum. Sie saß in ihrem Bett, reglos, in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen und alles, was sie sehen konnte, war das Bild an der gegenüberliegenden Wand, das Bild ihrer Eltern. Die Gesichter der Eltern waren durch viele, kleine Sprünge im Glas nur mehr schemenhaft zu erkennen. Das Mädchen wollte aufstehen, wollte reparieren, was kaputtgegangen war. Aber sie war wie gelähmt und so sehr sie sich auch mühte, sie konnte das Bild nicht erreichen. Mit Tränen in den Augen wachte sie auf.
„Es ist doch nur ein Traum, sie könnte alles tun“, meinte Luise aufgeregt und blickte die Ältere erwartungsvoll an, „Sie könnte bestimmt auch fliegen, wenn sie wollte!“ Elsa beobachtete aufmerksam ihre kleine Schwester, die sich jetzt aus ihren Kissen halb aufgerichtet hatte. „Nun“, setzte Elsa an, „das ist sie auch. Denn einmal tat sie etwas anderes. Ein einziges Mal. Aber manchmal genügt das.“
Eines Nachts suchte jener Traum erneut seinen Weg in den Schlaf des jungen Mädchens. Er war schon oft zuvor wiedergekehrt und immer gleich verlaufen, wie eine Spieluhr, die Nacht für Nacht aufs Neue aufgezogen wird. Das junge Mädchen fand sich in ihrem Bett wieder, so wie es auch die letzten Male gewesen war, doch war nun die nebelhafte Trance einer plötzlichen Klarheit der Gedanken gewichen. Sie warf einen Blick zu dem Bild ihrer Eltern und verstand zum ersten Mal, dass sie nichts tun konnte. Sie konnte nur weitergehen und die Glassplitter, die immer sein würden, was sie waren, hinter sich lassen. Das Mädchen stand auf und ging zum Fenster. Sie blickte ins Uferlose. Bis sich in weiter Ferne der schneeweiße Boden ausmachen ließ.
Und sie sprang.
Aber, sie fiel nicht. Sie segelte, wie ein Herbstblatt im Wind, das durch die Lüfte tanzt, um sich selbst wirbelt und die tollsten Sprünge und Drehungen vollführt, bevor es sich sachte und mit einer tiefen Verbeugung auf dem Boden niederlässt.
Als das junge Mädchen nun mit ihren Füßen das Eis berührte, geschah etwas Magisches. Langsam, Zentimeter für Zentimeter, breitete sich eine Wärme über die Landschaft aus, die aus dem stark pochenden Herzen des Mädchens strömte. Eine Wärme, die den Schnee hinwegschmolz und den Winter in einen blühenden Frühling verwandelte. Und die erste Blume reckte ihren Kopf der Sonne entgegen, rein und zart und leuchtend, sodass neben ihr all der Schmerz verblasste.
Elsa schloss das dicke, grüne Märchenbuch und legte es zur Seite. „Ist das eine wahre Geschichte?“, murmelte Luise, die schon fast eingeschlafen war. Zärtlich strich ihr Elsa über die Haare – und lächelte.
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