Musikvon Patrick Green
"Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!
Bin Freund, und komme nicht zu strafen.“
-Matthias Claudius
In einem Konzert in der ersten Reihe zu sitzen heißt, dass man die totale Körperlichkeit der Musik, die ja sonst als ätherisch gilt, miterlebt. Wenn man entsprechend veranlagt ist, und das ist bei mir der Fall. Zuckende Augenbrauen, zuweilen im Krampf verzogene Münder, die Lippen gestaut und an den Rändern schon zwischen die Backenzähne gedrückt oder gesogen. Oder das charakteristische, verschmitzt-verheißende Aufreißen der Augen in Richtung der anderen Spielenden, im Zuge tropfender Pizzicatos, bei denen gemeinsam konzentriert eine brauende Spannung zurückgehalten werden muss. Oder der auf einmal mit erlöstem Lächeln leicht vom Instrument wegneigende Kopf bei einem langen verspielten Triller, der in ein wehendes, leuchtend türkises, alles verschluckendes alles in sich bergendes Laken aus Dur gleitet. All dies, und zwischen Instrument und Wange gepresste Schweißtücher und nutzlos herumhängende Beine, die im Laufe der Stunden die Position und ihr Arrangement träge und passiv ändern wie treibende Stricke aus Seetang in der Brandung. Es störte nicht meine Erfahrung der Musik, die ich so liebte, es zerbrach mir keine Idylle, sondern bestätigte sie mir.
Natürlich werde ich über das Konzert nichts erzählen, was über allgemeine nüchterne Feststellungen hinausgeht. Die Musik bleibt diesen Momenten vorbehalten und mir. Ich würde an meinen Erlebnissen im Solitären, diesem Raum, den man, wenn man sich recht besinnt, seltener betritt als man denkt, Verrat üben. Den Kosmos, der sich zwischen mir und diesen Gestalten, Gestalten die aus altem Holz fließen und mich in ihren Bann ziehen und alle kleinen Lügen der Welt vergessen und verachten lassen wie ein warmer Sturm am Abend; ich würde diesen Kosmos betrügen.
Ich erhebe mich also aus der ersten Reihe und gehe, der hell holzgetäfelte Saal ist noch Warm vom Applaus, hinaus, freudig betreten angesichts der Tatsache, dass ich meine eigene tiefe Erregung beobachten kann wie ein grasendes Tier auf einer Lichtung. Einige noch Sitzende, die ich passiere, werfen mir freundliche, von leichter Anerkennung schimmernde Blicke entgegen, aus lachfaltengezierten Augen. Ich gehe von meinem Alter als der Ursache dafür aus, doch stelle ich mir vor dass sie das Tier auch sehen können.
Ich ging mit hallenden Schritten durch ein noch leeres Labyrinth aus hohen Glastüren und schlichten Marmorplatten, dann trat ich, hinter mir das bienenkorbhafte Summen des sich entspannenden Publikums, auf die Treppen an der Front des Konzerthauses. Sie waren künstlich verrostet und durchzogen von Linien aus Chromgeländern, spannten einen breiten Bogen vor der Front des Gebäudes. Ich stand allein auf diesem weiten Ort, sah über den Rasen am Fuße der Stiege auf den Fluss. Fühlte mich betört, die Musik noch auf meiner Haut kondensierend, badete in der klaren warmen Dämmerung. An diesen lauen Juniabenden, in denen sich der kommende Sommer schon sanft und milde flüsternd abzeichnet, vergisst man die Jahreszeiten, denkt nicht, riecht nur; das kühle frische Keimen und das Kommende, losgelöst von Zeit und Raum.
An der Promenade trieben vereinzelt Paare vorbei wie Löwenzahnsamen. Alle waren sie so konzentriert aufeinander, ihre Hände oder Gesichter oder die milchigen Wellen, die an die Promenade schwappten. Und Niemandem fielen die drei grasenden, riesigen Feldhasen auf, die auf der Wiese vorm Konzerthaus standen und im orangegelben Halogenflutlicht so surreal aussahen als hätte sie ein schwärmerischer Geist hingestellt. Obwohl ich meinen Sinnen immer vertraute, blinzelte, fokussierte ich. Ja, sie waren wirklich da. Nicht hingegangen oder gar dort Zuhause schienen sie in dem dunklen, durch den Tau von orangenen Reflexen, glühenden Nadeln gemaserten Grasstück, aus dessen üppiger Schwärze leicht verwildert einige hohe tropfenschwere Halme hervorstanden.
Wie meisterhaft konstruierte messingne Wesen wirkten sie da auf mich, von der Art, wie man sie in alten Wunderkammern ausstellte. Sie waren lautlos, wechselten manchmal trottend, gleichmütig und still die Stelle. Und ließen sich nicht stören von den Passanten, als ob sie wussten, dass niemand sie sehen konnte, so wie ich es urplötzlich, sie betrachtend, gewusst hatte. Ich verweilte eine Zeitlang so, ergriffen und leise, nicht vorsichtig, sondern behutsam verweilte ich, wissend, nicht in Gefahr zu laufen diese Wesen zu verjagen. Wissend gar, in diesen Augenblicken nicht einmal in der Lage zu sein diese Wesen zu verjagen. Ich war ganz in dieser stillen, vor Konzentration vibrierenden Sphäre versunken, mit ihrem matten petrolfarbenen Himmel, dem trägen Fluss und den bunt leuchtenden Glasbauten am anderen Ufer. Und alles Menschliche, Nüchterne und Unwesentliche hinter einer unsichtbaren schützenden Wand, schemenhaft und unwirklich wabernd ging die Welt hinter ihr weiter und vorbei. Klar und wundersam scharf geschnitten aber sah ich in der bergenden Sphäre. Die Welt war mit einem Mal zu einer geheimen Abmachung geworden, an die sich alles stillschweigend hielt, und ich empfand, es überwältigte mich gar, als ich es erkannte, ich empfand Güte, reine Güte von dieser Welt kommend, von dieser Abmachung, an die ich mich halten konnte so wie alles andere sich daran hielt.
Es war schon von weitem zu hören, anfangs hohl und tonlos wie durch ein langes Rohr, doch es kam schnell näher. Ein gepresst-kehliges Männerlachen. So ich es wahrnahm, sank die wabernde Schicht in sich zusammen als hätte man sie fallen lassen, alles glich sich furchtbar aneinander an, die Außenwelt war wieder klarer und die Innenwelt wieder trüber. So konnte ich ihn sehen, einen untersetzten kleinen Glatzkopf, der, sich mit einem Begleiter unterhaltend, die Promenade herunterschlenderte. Er trieb mit seiner Stimme, seinem unscheinbaren Begleiter nachlässig irgendwelche Scherze hinwerfend, Risse in die gute Stummheit der Stiegen und des Rasens. Sie spazierten weiter, waren dort, wo die Stiegen anfingen, kamen näher, dorthin, wo der Rasen an den Weg angrenzte.
Und nachlässig, wie all die Scherze, die diese Person, dieser Mann seinem Freund hinwarf, war alles auch, nachdem er die Hasen auf dem Rasenstück erblickte.
Er formte seine Finger leichthin zu einer Pistole, streckte sie zielend von sich, sodass sein zu kleines graues Hemd, dass am Rücken spannte, Schweiß aufsog, und gab ein paar lächerliche phonetische Schussgeräusche von sich in Richtung der Grasenden. Die aristokratischen Wesen nahmen davon kaum Notiz, nur einen leicht irritierten Seitenblick spendeten sie dem Mann, der achtlos weiterging. Was ich da betrachtet hatte, diese kurze, hingeworfene Handlung, erschütterte mich. Jäh war mein Körper wie mit Essig übergossen, war die Luft in meinen Lungen ungesund bitter und schal wie viel zu kalter Rotwein im Mund, und mein Herzschlag ging aufdringlich, trocken und hart wie Gummisohlen, die immer wieder auf Steinstufen ausrutschen. Als all das geschah, wusste ich.
Weiß ich.
Ich schreite die Stufen hinunter und durchquere den schwarzen Rasen, der Tau durchnässt meine Schuhe. Ich nehme die Pistole, die, die sich diese wertlose Kreatur stumpf in den Händen ausgemalt hat, genau diese Pistole nehme ich aus meiner Jackentasche, so, dass seine Augen noch staunend blicken, mich mit dieser Pistole sehend. Ich stelle mich dem Mann in den Weg, er blickt mich nur an. „Können wir noch?“ frage ich ihn, und setze diesem unwürdigen Leben ein Ende, mit mehreren gedämpften, teilnahmslosen Schüssen, ohne viel Aufhebens. So, dass der erschlaffende teigige Leib zurückgestoßen und die Böschung zum Fluss hinabgeworfen wird.
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