mutige Einsamkeit
In der Ferne konntest du Frauenstimmen hören. Sie kämpften für ihre Rechte. Die Worte, die durch die Straßen hallten, waren bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Kampfesgesänge bahnten sich den Weg zum Regierungsgebäude.
Die Bewunderung, die du für sie empfindest, ist so unglaublich groß. Die Aktivistinnen, die sich trotz der Verfassungen Parks nicht unterkriegen lassen. Die sich furchtlos der Militärgewalt stellen.
Die Augen zu Schlitzen verengt, starrst du auf die Kirschblüten. Die Erinnerungen an den heutigen Morgen sind noch so klar. Du hast mit deiner Schwester, welche in einer Textilfabrik arbeitet, Frühstück gegessen. Sie bereits 21, abgemagert, von der vielen Arbeit. Blasse Lippen und eine noch blassere, zarte Haut. Sprödes Haar und eine leise sanfte Stimme. So sanft. Du hast schon oft darüber nachgedacht die Schule abzubrechen, so wie sie es tat, um arbeiten zu gehen. Doch deine Schwester hat es dir ausdrücklich verboten. Sie will, dass du dich auf die Schule konzentrierst, um zu studieren und dann eine gute Arbeit findest.
Als sie sich heute am Morgen für die Demonstration fertig machte, wolltest du sie dann verzweifelt daran hindern, sie in deinen Armen fest halten und nicht mehr loslassen. Du hast Angst sie nicht mehr wieder zu sehen. Das sie abgeführt wird, wie es Papa und Mama wurden.
Dich bedrückt etwas. Ist es, dass du sie einfach so hast gehen lassen?
Die Zeit, in welcher du allein in dem gemieteten Anbau bist, ist unerträglich. Diese Stille, das Ticken der Uhr, welches sich zu verlangsamen scheint. Das immer seltener werdende Zwitschern der Vögel. Die fast lautlos raschelnden Blätter in der Frühlingsbrise, die Stimmen der aufgebrachten Demonstrantinnen. In deinem Alkoven, welchen du mit deiner Schwester teiltest, hast du ein Gefühl von Angst und Reue. Reue nicht zu demonstrieren-Reue deine Schwester nicht zu unterstützen-Reue Papa und Mama nicht noch ein letztes Mal in den Arm genommen zu haben-Angst deine Schwester nicht wieder zu sehen.
Ohne es bemerkt zu haben, ist es mitten in der Nacht. Bist du eingeschlafen? Du zündest eine Kerze an, um die Uhrzeit ablesen zu können. Im zischenden Licht siehst du, dass es nach Mitternacht ist. Du hast dich wieder hingelegt und willst dich, wie gewohnt, zu deiner Schwester kuscheln. Die Wärme, die normalerweise zu fühlen war, ist nicht da. Wo war sie nur?
Suchend läufst du durch die Straßen. Du kannst im Mondschein Menschen erkennen. Manche am Boden oder in sich zusammengesackt, andere um sie herum. Manche sind ganz alleine. Du kannst eine Frau sehen, umhüllt, von der Dunkelheit der Nacht. Sie ähnelt deiner Schwester. Du fängst an zu rennen. Du rennst, so schnell du nur kannst, doch du kommst keinen Schritt voran. Die bis vor kurzem in der Luft versteckten Regentropfen blitzen nun wie kleine Diamanten im Mondschein auf. Donnergrollen. Platzregen. Sie ist es. Regungslos. Eine Träne auf ihrer so zarten, blassen, kalten, Haut.
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