Mutter Erde
Flammen tanzten in ihren Augen, während sie den heimeligen, wohltuenden Duft, der sich aus altem Feuerholz und Zimt ergab, einsog. Diese Geborgenheit fand Alexandra nur bei ihrer geliebten Großmutter. Schon immer waren die Besuche in deren Heim mit angenehmen Stunden, mit weisen Geschichten, die dem kleinen Mädchen aus jeglicher misslichen Lage helfen konnten, verbunden gewesen. Es dauerte auch nicht lange, bis der altvertraute Ruf aus dem Wohnzimmer hallte. "Komm meine Liebe, ich möchte dir eine Geschichte erzählen! " Die Flammen in den großen Kinderaugen leuchteten auf zu freudiger Erwartung, als Alexandra sich auf dem Schoß der alten Dame niederließ. Großmutter schenkte ihr ein mildes Lächeln, ehe sie zu ihrer Erzählung ansetzte und den Worten freien Lauf ließ. "Du musst wissen, ich habe eine ganz besondere Freundin. " Die winzigen Ohren spitzten sich, bereit sich voll und ganz der Geschichte hinzugeben. "Zu Beginn unserer Geschichte war sie noch eine junge Frau von unvergleichlicher Schönheit, so unendlich einzigartig und vielfältig. Alle Möglichkeiten standen ihr offen. Doch schon in frühen Jahren schenkte sie mehreren Kindern Leben. Sie widmete ihr ganzes Herz ihren Töchtern und Söhnen, kümmerte sich unermüdlich um sie, bot ihnen so viel Schönes und Wunderbares. So verstrich die Zeit und die Sprösslinge wuchsen heran. Oftmals stritten die Geschwister untereinander, und zu manchen Zeiten wurde es so schlimm, dass sie einander Verletzungen und Leid zufügten. Es schmerzte die Mutter sehr zu sehen, wie ihre Kinder sich auseinanderlebten. Einige von ihnen haben sich bis heute nicht versöhnt. " "Aber sie sind doch Geschwister! Haben sie sich gar nicht lieb? ", empörte sich das Mädchen über deren, wie sie fand, reiflich kindisches Verhalten. "Oh doch, Liebes! Doch wie es unter Menschen oft der Fall ist, wollte einer dem anderen beweisen, wer größer, stärker, mächtiger ist. . . Jedenfalls führte ein Großteil ihrer Kinder nun ein eigenständiges Leben, so manche wurden sogar sehr erfolgreich. Während der eine Teil seine Mutter sehr liebte und stets um deren Wohlergehen bemüht war, so sorgten sich die anderen nur um sich selbst. Ihre Mutter, die nun schon ein fortgeschrittenes Alter erreicht hatte, beuteten sie schamlos aus, verlangten stetig mehr von ihr. Dies erschöpfte die alte Frau und trieb sie schließlich in eine lebensbedrohliche Krankheit. " Die Großmutter verfiel in nachdenkliche Stille. Entsetzt blickte Alexandra, die gespannt der Geschichte gelauscht hatte, ihre Oma an. "Aber. . . aber wird sie denn jetzt sterben? Kann man ihr nicht mehr helfen? " In einem tiefen, zittrigen Seufzer schien die Großmutter all ihre Luft und ihre Sorgen loszulassen. "Nun, das liegt allein an den Nachkommen. Wenn sie sich jetzt um ihre Mutter sorgen, dann kann man sie noch heilen. Sie müssen sie retten. " Nach einer kurzen Pause setzte die Alte mit Nachdruck hinzu: "Du musst sie retten! Sonst ist sie bald tot. "
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