Nach Hause
„Geh. Geh bitte.“ – immer wieder spielte sich dieselbe Szene in meinem Kopf ab. Die sonst so hoffnungsvollen, dunkelbraunen Augen meines Vaters waren voller Enttäuschung gewesen. Ohne ein weiteres Wort hatte ich die vertraute Umgebung meines Dorfes hinter mir gelassen und den weiten Weg durch den Urwald Südamerikas bis zum Zentrum des Landes auf mich genommen. Seitdem hatte ich nie wieder etwas gestohlen, und mich stattdessen erfolgreich für ein Medizinstudium beworben. Wie gerne hätte ich all die Jahre jemanden gehabt, der meinen Erfolg mit mir feierte, jemand, der mir auf die Schulter klopfen und mir sagen würde, dass er stolz auf mich sei.
Meine Gedanken wurde von dem Spektakel, dass sich nun vor mir abspielte, unterbrochen. Ich beobachtete einige Sonnenstrahlen, die durch die Nebelschwaden hindurchblitzten und ein orangefarbenes Licht auf das Tal warfen, auf das ich blickte. Vor mir lag tatsächlich meine Heimat! Zehn Jahre waren vergangen, seit ich den steilen Weg zuletzt gegangen war. Zehn Jahre, in denen so viel passiert war. Als ich dem kleinen Dorf näher kam und es genauer betrachtete, stiegen Zweifel in mir auf. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, hierherzukommen? Klar, jemand musste der Dorfgemeinschaft die monatliche Ration an Medikamenten liefern, aber ich hätte mich doch auch für einen anderen Teil des Landes entscheiden können! Vor lauter Zweifeln und Grübeln hatte ich nicht bemerkt, wie mich einige Dorfbewohner bereits erspäht hatten und nun wild gestikulierend auf mich deuteten. Ein Rückzug war also ausgeschlossen. Zögernd stapfte ich den schlammigen Pfad entlang, der mich zum Dorfplatz führen würde. Ich atmetete tief durch. Wenige Meter noch, und ich würde ihn sehen. Würde er mich überhaupt wiedererkennen, geschweige denn sehen wollen?
Weiter kam ich nicht in meinen Überlegungen. „Er ist krank! Kommen Sie schnell, er ist krank!“, unterbach mich ein verzweifeltes Rufen. Mehrere Dorfbewohner liefen aufgewühlt über den Hauptplatz. Ehe ich mich versah, wurde ich in eine kleine Blockhütte gezerrt. Eine Kerze brannte in der Ecke und beleuchtete die einfachen Bambusmöbel. Mein Blick fiel sogleich auf einen älteren Mann, der sich in dem knarzenden Holzbett hin- und herwälzte und dabei ununterbrechlich hustete. Sanft setzte ich mich auf die Bettkante und sah meinem Patienten ins Gesicht. Es war von der harten Arbeit durchfurcht und die buschigen Augenbrauen zeigte seine Sorge und Neugier. Und da sah ich sie – seine unverkennbaren dunkelbraunen Augen, die weit geöffnet waren, als sie meinen Blick trafen. „Vater!“, entfuhr es mir. Er wollte etwas erwidern, doch seine raue Stimme versagte. Schnell kramte ich den Hustensaft und ein fiebersenkendes Mittel aus meinem Rucksack. Als ich wieder aufschaute, war alle Besorgnis aus Vaters Gesicht gelöscht. Ganz langsam setzte er sich auf und musste erneut husten. Dann legte er seine Hand auf meine Schulter, sah mich liebevoll an und sagte: „Ich bin stolz auf dich. Bleib. Bitte, bleib.“
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