Nachts am Riesenrad
Für die meisten Menschen bin ich nur der Mann vom Riesenrad. Der stinknormale Typ an der Kasse.
Aber ich bin keineswegs so, wie alle denken. Und ich mache diesen Job nicht deshalb, weil ich nichts anderes finde. Ich war Altenpfleger. Dann bin ich in so eine Sache reingezogen worden, die mich nicht nur meine Arbeit gekostet hat, sondern auch sonst alles. Ich war eine Weile im Gefängnis. Ich weiß, was du jetzt denkst. Deshalb sage ich das normalerweise nicht gern. Aber heute ist kein normaler Tag.
Heute vor einem Monat ist mein Großvater gestorben. Und er war bis zuletzt der einzige Mensch, der an mich geglaubt hat. »Junge, aus dir wird mal was«, hat er gesagt. Ich wünschte, er hätte noch erleben können, wie seine Hoffnungen wahr werden. Ich vermisse ihn. So sehr, dass es mir fast die Tränen in die Augen treibt. So sehr, dass ich am Ende meiner Schicht selbst noch eine Runde mit dem Riesenrad fahre. So sitze ich einen Moment später in der Gondel, wie es einst mein Großvater und ich taten, als ich noch klein war und auch, als ich nicht mehr ganz so klein war.
Wir haben immer freitags die letzte Fahrt genommen, wenn es schon dunkel wurde. »Nachts am Riesenrad, da lösen sich alle deine Probleme von selbst«, hat er gesagt. Dieser Satz läuft in meinem Kopf auf Dauerschleife, seit er tot ist. Auch jetzt höre ich ihn immer wieder in mir, während ich höher steige und sich die Lichter Wiens unter mir ausbreiten. Lichter von Häusern, in denen Menschen wohnen, die mir einst die liebsten waren und die nur noch ein paar Fremde sind. Da kommen mir tatsächlich die Tränen. Die Skyline verschwimmt vor meinen Augen und da ist nur noch dieser traurige, tränenverhangene Schleier, der mich schon länger begleitet, als mir lieb ist. Ich habe viel geweint im Gefängnis und noch viel mehr nachgedacht. Über das Leben. Über die Drogen. Über Jana und wie sehr ich sie liebte.
Mittlerweile ist meine Gondel oben angekommen und Wien breitet sich unter mir aus, die Stadt wird kleiner und für einen Moment der Schwerelosigkeit fällt alles von mir ab. Für einen Augenblick steht die Welt still, über mir der Himmel und unter mir die Stadt. Ich frage mich, ob ich ihm jetzt näher bin. Ob er mich gerade von da oben aus anlächelt. Vielleicht sollte ich seine Nähe spüren. Aber ich fühle nichts. Gähnende Leere. Und das macht mich so traurig, dass es mich von innen auffrisst. Mein einziger Gedanke, als wir den höchsten Punkt des Riesenrads erreichen, ist: Wie viel können wir uns noch wünschen, wenn alles verloren ist, wenn niemand mehr an uns glaubt?
Das ist es auch, was mich traurig macht. Dass ich keine zweiten Chance kriege. Nicht mal vom Leben selbst. Ich wünschte, Opa würde mich jetzt in eine Umarmung ziehen. Er war für mich da. Jetzt gibt es ihn nicht mehr. Jetzt bin ich nur der Ex-Knacki, dessen Probleme nicht weniger werden, wenn er nachts mit dem Riesenrad fährt. Der sein Leben nie auf die Reihe kriegen wird.
Denn das ist es doch, was du denkst, nicht wahr?
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX