Narben
Es braucht nicht viel, um die Illusion einer scheinbar heilen Welt zum Einsturz zu bringen. Du wirst den Tag niemals vergessen, bevor es geschah, die letzten Worte, die miteinander gewechselt wurden. Wärt ihr tatsächlich so gut befreundet gewesen, wie du glaubtest, hättest du nicht etwas bemerken müssen? Nun ist es zu spät. Ihr Tanz mit dem Tod besiegelte ihr Ende. Allein gelassen mit deinen Schuldgefühlen, die dich immer tiefer in den Abgrund ziehen, ist deine Trauer ein ständiger Begleiter. Es gibt kein Entrinnen. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde begleiten dich diese Gefühle. Hättest du das drohende Unheil abwenden können? Auf deine Fragen ertönt Totenstille.
Es braucht nicht viel, um das Fundament deiner Existenz zum Einsturz zu bringen. Sahst du nicht die Zeichen der Selbstmisshandlung, die Narben, die aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit geboren wurden? Bemerktest du nicht die Angst, die sie wie einen Schatten verfolgte, bereit, um ihr den Todesstoß zu versetzen? All diese kleinen Vorzeichen verhallten. Nun sollst du sie nie wieder sehen.
Hat dein Schweigen sie auf dem Gewissen?
Einatmen, ausatmen.
Panikattacken, Angstzustände kannst du dir nicht leisten. Das System kennt keine Gnade. Achte auf deine Atmung, um deiner Gefühle zumindest für einen kurzen Moment Herr zu werden.
Einatmen, ausatmen.
Einatmen, ausatmen…
Es verschafft dir keine Abhilfe. Suizid ist ein Ausweg, aber welcher? Niemals würdest du sie verurteilen. Doch an dir nagt ihre Entscheidung. War es schmerzlos? Was waren ihre letzten Gedanken? Hättest du ihr helfen können, einen Weg zurück ins Leben zu finden?
Einatmen, ausatmen…
Dein Blick schweift im Zimmer umher und fällt schlussendlich auf eine Uhr. Ticktack, Ticktack, immerzu. Wie sie das Leben wegtickt…
Diese Gedanken sind wie Gift, fressen sich immer mehr hinein in deine Seele. Langsam, aber sicher bist du von deiner Schuld überzeugt. Hättest du reagiert, wäre sie noch am Leben! Insgeheim bist du dir bewusst, dass du keine Schuld trägst. Dennoch fühlt es sich an, als hättest du sie eigenhändig ermordet. Diese Selbstmarterung entspricht nicht ihrem Willen. Doch gefangen in deinem Käfig, gesponnen aus Selbstverachtung, Einsamkeit und Furcht, ist deine Selbstsicht verzerrt.
Ticktack…
Immer tiefer und tiefer umschlingen dich deine Schuldgefühle, fesseln dich deine Alpträume. Es nimmt kein Ende… Diese Narben, die einst die Arme deiner Freundin zierten, drängen sich in dein Bewusstsein. Die Wunden, zugefügt von verzweifelter Hand, ein Hilfeschrei, der verklang, seelische Verletzungen, die zu körperlichen wurden. Wieso hört es nicht auf? Du würdest alles tun, damit deine Angst der Vergangenheit angehört und bist bereit, dafür Berge zu versetzen. Du schreist, doch deine Kehle ist wie zugeschnürt. Enger und enger wird deine Gedankenspirale. Schon lange erscheint sie unentrinnbar, ist wie ein Gefängnis, in dem Schuld und Elend gemeinsam walten. Es braucht nicht viel, um ein Leben zu beenden…
Heute greifst du zum Messer.
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