Negative Entry
„Also, die erste Gruppe kann schon in das Zodiac, die zweite kann nochmal den Buddycheck machen!“
Somit beginnt also mein 472. Tauchgang. Ich war schon ziemlich gespannt auf Shaab Claudio, und obwohl ich das Riff schon dank zahlreicher Tauchgänge zu jeder Tageszeit gut kenne, sind die Felsformationen an der Ostseite, an der wir ja laut Briefing abtauchen werden, für mich immer wieder etwas Spannendes. Immerhin hatte ich hier ja zum ersten Mal einen ausgewachsenen Napoleon gesehen.
Das war 2002, mein erstes Jahr in Ägypten. Ebenso mein letztes in Österreich.
Ich bin zwar gebürtiger Wiener, doch meine Zeit in Österreich, ja, meine ganze Jugend war nicht einfach. Wenn deine Großeltern an Krebs sterben, hast du eine erhöhte Chance auch daran zu erkranken. Wenn du in der Schule gemobbt wirst und du nur in Sport ein „Sehr gut“ bekommst, weißt du, dass du eigentlich Wien verlassen möchtest. Ganz neu anfangen, vielleicht in Steyr. Wenn dann aber auch noch deine Mutter eine gerichtliche Scheidung beantragt und deine Eltern getrennt leben, 2 Stunden 24 Minuten mit dem Zug um genau zu sein, möchtest du in ein anderes Land.
Inzwischen sehe ich schon das Riffdach. Wie bei den letzten Malen sind die Durchbrüche des Daches, und ich kann mich förmlich zwischen den berüchtigten Spalten des Korallengartens durchtauchen sehen. Zwischen dem Schlauchboot und der Tauchzone liegen nur noch einige Blöcke, die wir am Ende beim Sicherheitsstopp sicher umtauchen werden.
Zu meinem 15. Geburtstag schenkte mir meine Großmutter einen Tauchkurs, in dem Wissen, ich wollte schon immer etwas Abenteuer im Leben. Ich war damals einer der Besten bei dem Abschlusstest. Währenddessen erkrankte mein Vater an Krebs, und meine Chancen, auch an der unheilbaren Krankheit zu leiden, stiegen immer weiter an.
Wenn deine leibliche Mutter sagt, dass dein Vater den unausweichlichen Tod verdient hätte, möchtest du auf einen anderen Kontinent.
„Noch circa zwei Minuten! Putzt eure Brillen, es gibt einen Negative Entry!“
Als ich dann anfing, regelmäßig Tauchsafaris auf der ganzen Welt zu besuchen, wurde für meine Familie schnell klar, dass sie mich aus ihrem Leben streichen können. Als dann mein Vater starb und mir sein gesamtes Erbe hinterließ, wurde ich von der restlichen Familie wie ein schwarzes Schaf behandelt. Nur meine Oma empfängt mich noch mit Stolz.
„Brillen auf.“ Der Guide fragt noch per Handzeichen nach, ob wir bereit sind.
Der Grund meiner Abwesenheit ist nicht zuletzt die Tatsache, dass ich hier nicht mit dem Tod konfrontiert bin. Wenn du beim letzten Österreichbesuch erklärt bekommst, das du mit beinahe 100%-iger Wahrscheinlichkeit an nicht heilbarem Krebs erkrankt bist, brichst du eben Hals über Kopf auf.
Drei. Zwei. Eins. Daumen nach unten. Wir tauchen ab. Hals über Kopf.
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