Nervenflimmern
An einer Straßenecke wurde uns was angeboten, und weil das ja noch nie schief gelaufen war, kauften wir es.
Weißt du, was das ist? , fragte ich Marie.
Aber Marie hörte mich schon nicht mehr, zerrte mich in einen Club, wo Realitätsverlust Geschäft war, auch ohne Drogen, wo alles leuchtete und blinkte und die Augen das Einordnen der Eindrücke irgendwann aufgaben.
Benedikt nippte am 10 Euro teuren Wasser. Benedikt, der sich geschminkt hatte in der Jugendherberge, weil Johannes beim Anblick eines Bowie Posters gesagt hatte, wie toll er Androgynie finde. Benedikt, dem anscheinend nicht klar war, dass es auffiel, dass er kurz nach diesem Kommentar plötzlich Schminke auftrug. Dem das vielleicht aber auch egal war. Der sich von Marie oder mir hätte helfen lassen sollen. Bei dem man sich fragt, ob er in seinem Zimmer keinen Spiegel hat. Dessen Gesicht im Laufe des Abends immer mehr dem des Jokers ähneln wird. Dem man das nicht sagen darf, weil er sonst nicht mehr raus gehen würde. Ich sah ihn auf dem Klo verschwinden, wenig später war er weg. Johannes ging ihn suchen.
Ich und Marie objektivizierten uns. Meine Lippen waren ein eingefrorener Bildschirm, auf dem man entnervt herumdrückt, damit er nicht mehr still steht, ihre Hüften ein neues iPhone, auf dem ich mit meinen fettigen Fingern keine Flecken hinterlassen will. Als die Haut bei jeder Berührung wund scheuerte, sagte mir Marie, dass sie wünschte, alles wäre anders – ich wusste, sie sprach von der Gesamtsituation, vom Rückfall ins dunkle Zimmer, der ihr zuhause drohte. Wir waren an einem Punkt angelangt, an dem man Schwüre fürs Leben schließt, sie ernst meint und nach vier Stunden wieder vergisst. Wir tanzten unter völliger Verkennung der Musik einen ruhigen Paartanz, während alle um uns herum zuckten, traten, stampften, schlugen, ballerten: Versuchten, sich aus ihrem Körper zu schütteln. Ich wusste nicht, was wir genommen hatten, aber es war mir auch egal.
Marie rauchte ihren Joint in Eile, als wollte sie ihn loswerden. Ich dachte an Marie, während sie neben mir ging, als wäre sie nurmehr eine Erinnerung: Marie, die nicht zum ersten Mal rauchte. Deren Geruch aus Schweiß und Gras und Zimt mich anzog, obwohl mir Hygiene wichtig war.
In der Jugendherberge angekommen schloss ich mich im Klo ein, löschte alle Bilder und den Suchverlauf, glaubte, ein neuer Mensch sein zu können, einer wie Marie, der alles intensiv wahrnahm und mit Dramatik litt. Meine Schuld an allem drückte mich ins Klo und ich sah kaum vor verwischter Mattscheibe, mein Kopf implodierte, ohne zu explodieren. Ich hatte einen Anfall von patriarchalem Edelmut, in dem mir klar wurde, dass ich Marie nicht verdiente, und mich deshalb zu ihrem Schutz von ihr fernhalten müsse. Ich wusste, das meine Denkweise den Drogen entsprungen war, aber auch, dass sie mir eine Logik ermöglichten, für die ich im nüchternen Zustand zu inkonsequent war. Ich schrieb ihr, dass ich müde sei, stellte auf Flugmodus und täuschte Schlaf vor, falls sie mich beobachtete.
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