Neuanfang
Warum? Das war wahrscheinlich die Frage, die sie sich fast jeden Tag stellte. Warum tat sie, was sie tat? Warum musste sie tun, was sie tat? Warum war das Leben so unfair? Warum konnte sie nicht so wie andere Frauen Lehrerin oder Sekretärin sein? Warum war sie dazu gezwungen, sich Tag für Tag auf die Straße zu stellen, in der Hoffnung, der nächste Kunde würde sie anständig behandeln, sodass ihr Selbstwertgefühl nicht noch mehr sinken müsste.
Eines Abends, als die Sonne bereits untergegangen war und ihre Schicht somit begonnen hatte, stand sie mit Netzstrümpfen und Minirock am Straßenrand und dachte über all das nach, bis ihre Gedanken durch ein Hupen unterbrochen wurden. Die Arbeit rief.
Nachdem sie endlich wieder erlöst war und nach Hause gehen konnte, weinte sie sich wie so oft in den Schlaf. Und als sie dann mit geschwollenen Augen aufwachte, nur um festzustellen, dass sie noch immer in ihrem winzigen Appartement lebte, alleine, weder Freunde noch eine Familie, die sich für sie interessierte, und sie heute wieder mit fremden Männern schlafen musste, dachte sie nur noch: „Ach, leck mich doch! Ich hab keinen Bock mehr auf diese Scheiße!“ Mit einem schnellen Griff schnappte sie ihre Reisetasche, stopfte wahllos Zeug hinein, verließ ihre Wohnung und knallte die Tür hinter sich zu. Nach einem tiefen Seufzer machte sie sich grinsend auf den Weg zur nächsten Bank. Die Frau am Tresen schaute ziemlich verdutzt, als sie ihre gesamten Ersparnisse verlangte, und fragte nochmal nach, ob sie sich denn sicher sei. „Ich war mir noch nie sicherer! Heute fange ich ein neues Leben an, wissen Sie?“ und mit diesen Worten entlockte sie sogar der Mitarbeiterin ein Schmunzeln. Schnell beim Flughafen angekommen, ging sie, vor lauter Aufregung mit pochendem Herzen, zum nächsten freien Schalter und begrüßte den Angestellten mit einem fröhlichen „Hallo!“ Dieser, überrascht von der freundlichen Begrüßung, antwortete: „Guten Tag! Sie sind aber gut drauf!“
„Kann man so sagen!“
„Also, wie kann ich Ihnen helfen?“
„Ich würde gerne irgendwo hinfliegen.“
„Da können wir Ihnen bestimmt helfen!“, er lachte. „Haben Sie zufälligerweise auch ein bestimmtes Reiseziel?“
„Nope! Ich will nur so schnell wie möglich weg von hier! Geben Sie mir einfach irgendein Ticket, ich nehme alles.“
„Sie haben doch niemanden umgebracht, oder?“, erneut erklang sein Lachen. Ein netter Kerl, ganz anders als die Art von Männern, die sie kannte. Dann richtete er seinen Blick auf den Computer, der vor ihm stand, tippte hastig auf der Tastatur herum und sagte schließlich: „Also in zwei Stunden gäbe es einen Flug nach Accra, auf dem noch ein Platz frei ist.“
„Keine Ahnung, wo das ist, aber her damit!“ Er überreichte ihr mit einem Lächeln das Stück Papier, das ihr gesamtes Leben verändern würde und wünschte ihr viel Glück.
Als sie dann im Flugzeug saß und es sich endlich in Bewegung setzte, hielten sich alle nervös an den Armlehnen fest, während sie lächelnd aus dem Fenster sah und sich auf ihren Neuanfang freute.
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