Neulandvon Julia Lückl
Ich bin hier jetzt alleine. Die anderen sind schon weg. Weggegangen. Aber er nicht. Ich auch nicht. Ich schaue zu ihm hinüber. Er sitzt dort. Er wartet. Ich auch.
Wir haben nicht miteinander gesprochen. Auch wenn ich ihn gerne gefragt hätte, wo sie ist. Die Grenze. Aber er sitzt dort auf seiner Seite und ich sitze hier auf meiner. Und die Grenze ist auch irgendwo hier. Irgendwo zwischen uns.
Er wartet immerzu auf seiner Seite. Anfangs noch mit seinem Gewehr in der Hand, jetzt ohne. Jetzt steht er einfach nur dort. Ich nicht. Ich stehe auf meiner Seite. Mit meinem Gewehr. Sonst ist da nicht viel, nur ich und er. Irgendwann hat er begonnen, näher zu kommen. Immer näher. Ich habe mich gefragt, wo die Grenze wirklich ist. Wie weit er noch gehen kann, bis er nicht mehr auf seiner, sondern schon auf meiner Seite ist. Aber wenn er näher kommt, kommt sie auch näher. Bis er stehen bleibt. Dann bleibt sie auch stehen. Er steht dann direkt hinter ihr. Er sieht mich an. Ich schaue weg.
Ich habe vergessen, wie es war, als wir noch keine Seiten hatten. Aber das macht nichts. Jetzt habe ich meine und er hat seine. Manchmal glaube ich, dass das nicht gerecht ist. Dann schaue ich hinüber und merke, dass seine Seite größer ist. Dass seine Seite eigentlich meine sein sollte. Nein, sage ich mir dann. Deine ist größer. Und auch wenn sie es nicht wäre, schöner ist sie auf jeden Fall. Dann will ich aufstehen und hinübergehen. Will mir seine Seite ansehen und sehen, dass meine größer ist. Aber ich traue mich dann doch nicht.
Ich denke viel. Ich frage mich, ob die Grenze immer da sein wird. Ich weiß nicht, ob wir merken, wenn sie es nicht mehr ist. Ob man es uns sagen wird. Dass der, der dort auf der anderen Seite sitzt, wieder auf der gleichen Seite sitzt. Nicht mehr auf der anderen. Manchmal will ich dann aufstehen, einfach weggehen. Nicht mehr dort warten, sondern alles sein lassen und eben einfach gehen. Ich überlege dann, was aus meiner Seite wird, wenn ich gehe. Nicht mehr da bin. Was aus seiner Seite wird. Wir reden nicht darüber. Wir reden nie. Er steht dort. Ich denke viel.
Einmal ist er sie entlangspaziert. Ich weiß nicht, woher er wusste, wo sie ist. Aber er ist immer wieder hin und her gelaufen. Dabei immer näher gekommen. Ich habe das Gewehr genommen. Auf ihn gerichtet. Ich wollte schießen. Wirklich. Noch einen Schritt. Einen Schritt, dann ist er sicher auf meiner. Und dann – Peng. Aber da ist er stehen geblieben. Und er hat sich zu mir gedreht. Einen Schritt, habe ich gedacht, und dann Peng. Aber ich habe nicht geschossen. Wenn ich geschossen hätte, wäre ich dort alleine geblieben. Alleine auf meiner Seite. Was wäre dann mit der anderen Seite passiert?
Er war dann weg. Ist nicht mehr dort gesessen.
Ich habe gewartet. Er ist nicht gekommen. Ich bin nach vorne gegangen. Nicht weit. Ich habe nach der Grenze geschaut. Sie nicht gesehen. Aber sie war noch da. Es war ja noch seine Seite da.
Ich schlafe schlecht, seit er weg ist. Ich liege nur mehr wach da und denke an ihn, denke an seine Seite. Ich weiß nicht, was ich tun soll, will hinübergehen, meine Seite von drüben sehen, aber dann doch wieder nicht. Dann dreht sich alles in meinem Kopf und ich sage mir, dass er noch da ist, dass er noch dort drüben ist und dass das seine Seite ist und hier meine. Und dann will ich aufstehen und ihn suchen und finden und seine Seite wiederhaben, weil ohne seine Seite gibt es meine nicht. Dann gibt es auch die Grenze nicht und dann gibt es gar nichts mehr, nur weil er nicht da ist und das geht nicht. Sie ist noch da, versprochen, und er auch und mir ist schwindelig, einfach schwindelig, aber die Grenze ist noch da, sie muss es noch sein. Ich sehe ihn dann wieder, wie er dasteht und ich denke - Peng, aber ich schieße nicht, weil er nicht da ist, ich nur an ihn denke, aber – Peng – es dreht sich nicht mehr.
Ich schlafe dann wieder ein.
Einmal bin ich aufgestanden. Das Gewehr habe ich liegen lassen und ich bin einfach losgelaufen. Ich habe nicht viel gedacht, so wie sonst, weil sonst dreht es sich wieder und weiter und das will ich nicht, wirklich nicht. Also bin ich los. Losgelaufen, ganz schnell, zu ihr. Es war dunkel und ich wusste, hier ist sie, ganz nah und ich bin gelaufen, blind, einfach los, aber ich habe sie nicht gesehen. Ich habe mir gesagt, dass sie da ist und dass ich weiß, wo sie ist, dass ich es sicher weiß und ich bin gelaufen. Einfach geradeaus. Du wirst es spüren, habe ich mir gesagt. Die andere Seite fühlt sich anders an. Jetzt, habe ich mir gedacht. Bei jedem Schritt. Jetzt. Aber ich bin nicht stehen geblieben.
Irgendwann habe ich mich umgedreht. Gesehen habe ich nichts. Zu dunkel. Ich habe mich dort hingesetzt. Gewartet. Da war nur noch diese eine Seite und ich wusste nicht mehr, wo meine anfing. Wo seine aufhörte. Aber sie musste noch da sein, die Grenze. Sie war ja immer da.
Ich bin dort sitzen geblieben. Er ist nicht gekommen. Er kommt nicht mehr. Ich habe hinübergeschaut. Versucht, die Grenze noch irgendwo zu entdecken. Gefunden habe ich nichts. Gesucht auch nicht richtig. Nur dagesessen. Bis ich irgendwann aufgestanden bin und weitergegangen. Ich weiß nicht wohin, irgendwohin, immer geradeaus. Irgendwann kommt dann die nächste, ganz bestimmt.
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